Vor der Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch
Champollion im Jahre 1822 wusste man über die altägyptische Medizin nur,
was altägyptische Mumien enthüllten. Ausser den Mumien wiesen nur noch
in Grabungen gefundene chirurgische Instrumente auf die altägyptische
Medizin hin. Dabei ist die Zuweisung der einzelnen Instrumente immer noch
Gegenstand zahlreicher Kontroversen, wie auch hier beim sog.
Instrumentenschrank am Tempel von Kom Ombo.
Ansonsten mussten sich die Ägyptologen auf das
verlassen, was griechische und römische Geschichtsschreiber überliefert
hatten. Dabei scheint es, dass die ägyptischen Ärzte einen
ausgezeichneten Ruf besassen. So schreibt schon Homer bewundernd in seiner
Odyssee, dass in Ägypten jeder ein Arzt sei, erfahrener als alle anderen
Menschen. Herodot schreibt um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. dass "die
Heilkunde bei den Ägyptern folgendermassen verteilt ist: Jeder Arzt ist
nur für eine einzige Krankheit da und nicht für mehrere" und er
fügt noch hinzu: "Alles ist voll von Ärzten". Der in der
zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in Rom lebende
griechische Arzt Galen berichtet, dass griechische Ärzte medizinische
Papyri konsultierten, die in der Bibliothek des berühmten Imhotep
aufbewahrt waren. Clemens von Alexandrien berichtet um 200 n. Chr. von
sechs medizinischen Büchern (über den Bau des Körpers, über die
Krankheiten, über die Geräte, über die Heilmittel, über die Augen und
über die Frauenkrankheiten). Soweit der Wissensstand vor Entzifferung der
Hieroglyphen.
Die Quellen
Als man nun endlich die geheimnisvolle
Hieroglyphenschrift lesen konnte, war man endlich auch in der Lage, die
Hauptquellen zur Erforschung der Medizin zu lesen. 13 medizinische Papyri
sind bis heute bekannt, von unterschiedlicher Länge, Inhalt, Qualität
und Alter. Daneben gibt es noch zahlreiche kleinere Zaubertexte mit mehr
oder weniger medizinischem Inhalt.
Die Schrift dieser Papyri ist Hieratisch, also die
kursive verbundene Gebrauchsschrift der Alten Ägypter, die sich von der
klassischen Hieroglyphenschrift etwa so unterscheidet wie eine heutige
Handschrift von der Druckschrift. Rubra, also mit roter
Tinte geschriebene Stellen, dienten der Hervorhebung von Über- und
Nachschriften, von Drogen-Quanten, sowie der Gliederung der Diagnosen. Die
Sprache ist das sog. Mittelägyptisch. Eine eigene medizinische
Fachsprache, die für den Laien unverständlich bleibt, da fremdartige
Elemente verwendet werden, liegt nicht vor. Lediglich formelhafte
Wendungen werden wiederholt: "Wenn du untersuchst...., und du
findest..., dann sollst du...". Im Übrigen werden Wörter der
Alltagssprache verwendet, so bezeichnet Katarakt eine Aufstauung,
Verschiebung eine Luxation und wenn der Patient sterben sollte, so ist das
eben kein exitus, sondern schlicht der Tod.
Bei diesen Papyri kann man zwischen Sammelhandschriften
und Fachbüchern unterscheiden. Die grösste Sammelhandschrift ist Papyrus
Ebers, der 1875 als erster medizinischer Papyrus von dem Ägyptologen
Georg Ebers publiziert wurde. Dieser Papyrus weist eine Länge von über
20 Meter auf und besitzt über 100 Kolumnen (aus Theben/heute in Leipzig).
Beispiele für Fachbücher sind der Papyrus Edwin Smith
für Chirurgie, der Papyrus Kahun für Gynäkologie, der Papyrus Ramesseum
V mit Rezepten gegen Versteifungen und Verkrümmungen der Muskelstränge
und Gelenke, Papyrus Beatty VI für Einläufe gegen Erkrankungen des
Leibes. Somit besitzen wir also bereits 4 der 6 von Clemens Alexandrinus
erwähnten Bücher. Daneben aber auch vieles andere, z. B ein Buch zur
Behandlung von Schlangenbissen, Schwangerschaftstests, Geburtsprognosen,
oder sogar einen Papyrus über Veterinärmedizin. Ausserdem erstaunlich
viele Schönheitsrezepte, wie Mittel gegen Ergrauen, gegen Falten, gegen
Mundgeruch oder zur Haarentfernung.
Medizin - Magie - Zauberei
Die Alten Ägypter nannten die Medizin "die
notwendige Kunst". Dennoch wurde die altägyptische Medizin in der
Ägyptologie lange mit Zauberei und Magie gleichgesetzt. Wahrscheinlicher
ist aber, dass Zauberei und Rituale die Medizin nicht ersetzte, sondern
ergänzte und verstärkte. Es gibt sogar Zeugnisse dafür, dass Patienten
nacheinander von einem Arzt, einem Priester und einem Zauberer untersucht
wurden. So enthalten auch die streng medizinischen Papyri Begleitsprüche,
die z. B. beim Lösen eines Verbandes oder bei Einnahme einer Medizin
rezitiert werden sollten. Im Papyrus Ebers wird das Verhältnis zwischen
Magie und Medizin im Alten Ägypten am treffendsten beschrieben, dort
heisst es:"Wirksam ist der Zauber (nur) zusammen mit dem Heilmittel,
wirksam ist das Heilmittel (nur) zusammen mit dem Zauber".
Auch die verschiedenen Titel der Ärzte machen die
Verbindung zw. Priestertum, Magie und Medizin deutlich, so trägt z. B.
Herischefnacht den Titel Oberster der Magier, Hohepriester der Sachmet und
Pharaos Arzt. Die meisten Ärzte tragen zusätzlich noch den Titel eines
Priesters der Sachmet. Wohl darum, weil diese löwenköpfige Göttin, die
in einem Mythos die Menschen auffrass, Krankheiten über diese bringen
konnte. Verehrt wurde sie deshalb zuerst aus Furcht, schliesslich wurde
sie aber zur gütigen und heilbringenden Göttin, wie sie ja auch im
Mythos durch Wein besänftigt zur zahmen Katze wurde. Ihre Abbildung im
Sahure-Tempel vollbrachte angeblich Wunder.
Aber Sachmet war nicht die einzige Heilgottheit: Der
Gott Thot, der als Pavian oder Ibis dargestellt wurde, war eigenlich der
Gott des Schreibens, des Messens und der Weisheit, aber auch Herr der
Geheimnisse und damit geheimer Heilsprüche. Der schon erwähnte Clemens
Alexandrinus schreibt ihm die Autorenschaft an einem 42-Bändigem Werk zu.
Ausserdem erwähnt Plinius, eine Legende, in der der Ibis seinen Schnabel
zur Reinigung seines Darms benutzte und so das Klistier erfand. Die
Griechen identifizierten Thot später mit Hermes Trismegistos.
Die Göttin Isis galt immer als grosse Zauberin, sie
war es, die ihren toten Gatten Osiris wieder zum Leben erweckte, um von
ihm einem Sohn Horus zu empfangen. Da jeder Ägypter zu einem Osiris wurde
nach dem Tode, wurde diese Reanimation nachgespielt durch das sogenannte
Mundöffnungsritual an der Mumie. So war auch jede kranke Person Osiris
und konnte durch Isis geheilt werden. Im Gegensatz dazu war der Mörder
des Osiris, dessen Bruder Seth, Symbol des Bösen und Verursacher von
Krankheiten und Epidemien. Dieser Seth war es auch, der seinem Neffen
Horus, eben jenem posthum gezeugten Sohn von Isis und Osiris, ein Auge
ausstach. Unter dem Schutz von Thot wurde das Auge des Horus wieder
geheilt und galt fortan als Symbol für Heil (wie auch die Hieroglyphe des
Horusauges wdja "heil sein" heisst). Augenärzte standen deshalb
unter der besonderen Schirmherrschaft des Thot. Die nilpferdgestaltige
Göttin Taweret wachte über die Geburt (wohl wegen ihrer Figur) und
Ärzte, die mit Nadeln hantierten, stellten sich - ganz logisch - unter
den Schutz der Skorpiongöttin Selkis.
Die Ägypter beteten also zu vielen Göttern, wenn es
um Heilung ging und nicht wie die Griechen zu einem einzigen Gott wie
Äskulap.
In späterer Zeit jedoch erreichte aber doch ein Gott,
der eigentlich ein Mensch war, den Status eines Heilgottes. Dieser Mann
mit Namen Imhotep war im Alten Reich also im 3. Jahrtausend vor Christus
Architekt des Pharao Djoser und Erbauer von dessen Pyramide - übrigens
der ersten - gewesen. Unter seinen Titeln war auch der eines Arztes. In
späterer Zeit wurde er mit Äskulap gleichgesetzt und somit als Heilgott
verehrt. (Übrigens wurde bisher trotz redlicher Bemühung weder sein Grab
noch seine eingangs erwähnte Bibliothek gefunden).
Ort der Medizinausübung
Abfassung, Niederschrift, Archivierung und Abschrift
der medizinischen Texte erfolgten im Lebenshaus, wo auch die Ausbildung
der Ärzte stattfand und die Operation und Heilung der Patienten erfolgte.
Das Lebenshaus - auf ägyptisch per-anch - ist eine
Institution, in der wissenschaftliche und religiöse Werke verfasst,
kopiert und aufbewahrt wurden.
Man kann davon ausgehen, dass jeder grösserere Tempel
ein Lebenshaus mit einer diesem angeschlossenen Bibliothek besass, deren
Bücher zu einem grossen Teil medizinischen Inhalts waren. Es existierte
dort als eine besondere Abteilung eine Art von Ärzteschule. Aber auch
Astronomen und Mathematiker waren dem Lebenshaus angeschlossen. Auch
geographische Papyri waren dort gelagert, Wörterlisten, theologische
Schriften, Götterannalen, Mythen. Hier wurden auch Festesänge komponiert
und Rituale einstudiert, Totenbuch, Sargtexte, Pyramidentexte und
Zaubertexte redigiert und Traumdeutung betrieben. Der Titel "Lehrer
des Lebenshauses" ist so oft belegt, dass man in der Ägyptologie oft
von einer Universität spricht. Das Lebenshaus war aber gleichzeitig
Universität, Spital, Bibliothek und Kultgebäude und diente somit ganz
allgemein dem Zweck, die Schöpfung zu erhalten.(Ausgegraben ist
allerdings noch keines).
Der Arzt
Die Ägyptischen Ärzte hatten einen ausgezeichneten
Ruf, auch im Ausland. So hatte nicht nur der ägyptische Pharao seine
Leibärzte, sondern auch ausländische Fürsten kamen an den ägyptischen
Hof, um sich untersuchen und heilen zu lassen oder stellten ägyptische
Ärzte in ihren Palästen an. Die römischen und griechischen
Geschichtsschreiber lobten das Wissen und die Kunst ägyptischer Ärzte
über alles. Hippokrates selbst soll inspiriert worden sein von den
medizinischen Büchern, die in einem Tempel in Memphis aufbewahrt werden
sollen. Auch die Pharaonen selbst treten immer wieder als medizinische
Wissenschaftler auf, so soll z. B. auch die letzte Königin, Kleopatra
VII., die Kleopatra, ein Buch über Frauenkrankheiten geschrieben
haben. Wie sehr bei diesem Ruf die Idee von Ägypten als Wiege der Kultur
und der Wissenschaft und als Reich der Magie und Zauberei mitschwingt, und
wieviel wirklich der Kunst ihrer Ärzte zu verdanken ist, ist schwer
auseinanderzuhalten.
Arzt heisst auf ägyptisch "swnw", Oberarzt:
wr swnw (daneben gab es noch verschiedene Unterarzttitel (Erklärung).
Viele praktizierende Ärzte waren Teil des Palastpersonals, und hiessen
swnw pr aa oder swnw nisw. An der Spitze der medizinischen Karriereleiter
stand der "wr swnw mhw schma" = Oberster Arzt von Ober- und
Unterägypten. Bei den Arzttiteln ist von Anfang an eine Spezialisierung
festzustellen: Es gab Pathologen, Augenärzte, Zahnärzte usw., sogar
Tierärzte. Interessanterweise besassen viele Ärzte auch den Titel eines
Schreibers.
Titel können auch kumuliert werden wie auf der Stele
des Arztes Iri.
Krankheitsdarstellungen
Auch in der auf den ersten Blick sehr ästhetizierten
und schablonenhaften Kunst Ägyptens trifft man bei näherer Betrachtung
immer wieder auf Darstellungen von Krankheiten oder Missbildungen, auch
sehr krasse Beispiele wie die berühmten Hungernden, Darstellungen
von Dickleibigkeit, von Beschneidungen, oder von Übelkeit. Eher
postiv zu werten sind die Darstellungen von Zwergen, die sich in Ägypten
grösster Beliebtheit erfreuten und bis in höchste Ränge aufsteigen
konnten.
Behandlung
Das Herz war für den Ägypter Zentrum des Menschen,
Sitz des Denkens und Fühlens und Zentrum eines Gefässsystems, das alle
Körperteile mit Blut, Wasser und Luft versorgt. So wurde es beim
Einbalsamieren/Mumifizieren nicht herausgenommen. Lediglich die Nieren,
die Leber, die Lunge und das Gedärm wurden sorgfältig entfernt und in
Kanopen gelagert. Wahrscheinlich lernten die Ägypter durch das
Mumifizieren viel über den menschlichen Körper. Sie waren gute
Beobachter und nur nach ausführlichen Befragungen und Tests am Patienten
wagten sie eine Diagnose. Es gab alle Arten von Heilmitteln: Tränke und
Pillen, Massagen, Verbände, Tinkturen, Salben, Umschläge, Bäder,
Augentropfen, Gurgelwasser, Inhalationen, Beräucherung, Klistier usw.
Die Rezepte werden nach einem Formular verfasst, das
den heutigen gleicht. Die Produkte wurden aus pflanzlichen und tiereischen
Mitteln gefertigt. Während die Wirksamkeit der Heilmittel oft fraglich
scheint, ist die Kunst der ägyptischen Chirugen jedoch unbestritten, auf
sie gehen dauerhafte Erfindungen zurück. So konnten Knochenbrüche und
offene Wunden erfolgreich behandelt werden, wie man heute an Mumien
rückwirkend feststellen kann. Sogar Zahnprothesen sind belegt.
Erstaunlich ist vor allem das Wissen um Zusammenhänge
von Krankheit und ihren Ursachen, so heisst der Titel eines Spruchs gegen
Seuchen "Zum Reinigen der Fliege".
Und geheilt oder zumindest behandelt wurde alles, was
wir heute auch kennen: So werden auch erstaunlich moderne Mittel zur
Empfängnisverhütung beschrieben, sogar die Pille danach (allerdings
wenig nachahmenswert - aus Krokodilkot).
Zum Abschluss einige Rezepte für Gastroenterologen,
die im Alten Ägypten übrigens "nr phiit" heissen, was soviel
heisst wie "Hirte des Afters": Ein Heilmittel zur Kühlung des
Herzens, zur Kühlung des Afters und zur Belebung der Gefässe: Es wird
zuerst ein Trank verabreicht, und dann wird noch ein Klistier gegeben:
"Honig 2,5 ro, frisches Behen-Öl: 1/4, süsses Bier: 10 ro werde
eingegossen in den After an vier Tagen. Andere Eingüsse bestehen aus
Pflanzenschleim oder angeritzten Sykomorenfrüchten oder Blättern der
Dornakazie. Der Fachausdruck für den Facharzt des Klistiergeben heisst
übrigens "Hirte des Afters". Eine "Verschiebung im
Afters" scheint den Darmvorfall zu bezeichnen, vielleicht auch
Hämorrhoiden oder beides, ein Rezept dagegen heisst: "Myrrhe,
Weihrauch, Zyperngras, Sellerie, Koriander, Öl, Salz, das alles werde
gekocht zu einer Masse, werde zu einem Faserbausch gemacht und werde in
den After gegeben".
Der Werbeslogan der altägyptischen Ärzte steht
übrigens im Papyrus Insinger; "Unterschätze eine unbedeutende
Krankheit nicht, wenn es eine Medizin gibt; nimm die Medizin".