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Die Medizin in Russland bis
zum Tode
Peters des Grossen
Von Dr. Hans Küry
Die russische Kultur beruht auf ganz besonderen geschichtlichen
Voraussetzungen, die sich wesentlich von jenen unterscheiden, die das
Antlitz des westlichen Europa bestimmt haben. Da die Russen von Byzanz aus
zu der griechisch-orthodoxen Form des Christentums bekehrt worden sind,
blieb ihnen im Mittelalter das Geistesleben des Westens fremd. Weder
kannten sie die großartige und festgefügte, im Papst gipfelnde
Hierarchie der katholischen Kirche, noch die auf die Römer zurückgehende
Ausbildung im oft spitzfindigen, formalistisch juristischen Denken.
Verschlossen waren ihnen alle lateinisch geschriebenen Werke der
Scholastik, fern lag ihnen auch der allzu weitgehende Ausbau religiöser
Dogmen. Das russische Christentum zeichnete sich mehr durch sein reiches
rituelles Leben und durch tiefe Mystik als durch hierarchische
Geschlossenheit oder durch logische Formulierung seiner Lehren aus.
Empfanden die Westeuropäer immer wieder als Nachteile der Russen
Unbestimmtheit der Anschauungen, Roheit oder Mangel an Formen, Überwiegen
des Gefühlslebens über das planmäßige oder wissenschaftlich
diziplinierte Denken, so tadelten umgekehrt die Russen an ihren Kritikern
die kleinliche Sophistik ihres Argumentierens, die berechnende Schlauheit
ihrer Diplomatie, die Überschätzung des vernunftmäßigen Wissens. Die
Westeuropäer neigten stets dazu, in den Russen Barbaren zu sehen, und
strebten danach, ihnen die Segnungen ihrer eigenen Kultur zu bringen,
während die Russen diesen Bemühungen mit Mißtrauen begegneten und sich
vor der raffinierten und rationalisierten Kultur des Westens, in der sie
Gefahren für ihre bodenständige Wesensart witterten, möglichst
abschlossen. Bis in die neueste Zeit hinein haben sich in wandelnden
Formen diese beiden Grundhaltungen immer wieder nur ausnahmsweise
vermochten einzelne Persönlichkeiten, wie etwa Peter der Grosse die
beiden entgegengesetzten Welten vorübergehend einander näher zu bringen.
Daß es Rußland im Laufe seiner langen Geschichte bis in die Neuzeit
hinein gelungen ist, eine Welt für sich zu bleiben und seine eigene
Kultur aufrecht zu erhalten, verdankt es zu einem guten Teil seiner
geographischen Beschaffenheit. Seine ausgedehnten Gebiete erlaubten es
ihm, die hauptsächlichsten Lebensbedürfnisse aus eigenen Mitteln zu
befriedigen und wirtschaftlich unabhängig zu bleiben. Die Lage zwischen
Europa und Asien gab ihm des weiteren die Möglichkeit, Niederlagen im
Westen durch Vorstöße nach dein Osten auszugleichen und umgekehrt. Und
schließlich bestärkte das Abgeschnittensein von großen Weltmeeren noch
die Abschließung. Anderseits war innerhalb des Riesenreiches fast alles
dazu angetan, die verschiedenen Gebiete sich einander angleichen zu lassen
und die Voraussetzungen zu unbeschränkter Herrschaft einzelner
Fürstenhäuser zu schaffen. Nur von wenigen, flachen Hügelzügen
unterbrochen, erstreckt sich von Norden nach Süden und von Osten nach
Westen fast durch ganz Rußland eine ungeheure Ebene, die von mächtigen
schiffbaren Strömen durchflossen wird. So waren der Austausch innerhalb
des Reiches, die Wanderung ganzer Stämme oder die Beförderung von Armeen
verhältnismäßig einfach. Die Nachteile dieser geographischen
Beschaffenheit lagen allerdings darin, daß fremde Reitervölker wie die
Ungarn, die Hunnen oder die Tataren, besonders im Süden leicht über
weite Gebiete vorstoßen konnten, während im Norden ausgedehnte und
schwer passierbare Wälder einen natürlichen Schutz für die einheimische
Bevölkerung bildeten. So ist es denn immer mehr dazu gekommen, daß die
Gebiete im Norden, besonders das ziemlich zentral gelegene Fürstentum
Moskau, zu den eigentlichen Bollwerken des russischen Reiches wurden.
In den Anfängen der russischen Geschichte spielten allerdings zwei andere
Zentren die Hauptrolle: Nowgorod am llmensee und Kiew am Dnjepr, beide an
der uralten Wasserstraße gelegen, die von der Ostsee zum Schwarzen Meer
führt und sich aus den Teilstücken Newa - Ladogasee - Walchow - llmensee
- Lowatj - Düna - Dnjepr zusammensetzt, mit unbedeutenden Landstrecken
dazwischen, die leicht zu überwinden waren, wenn dort auch hie und da
räuberische Stämme die Gegend unsicher machten. Diese Straße war von
außerordentlicher Wichtigkeit, erlaubte sie doch einen Güteraustausch
zwischen Skandinavien und Norddeutschland einerseits mit Byzanz und den
angrenzenden Mittelmeerländern anderseits, ja sogar noch über das
Kaspische-Meer hinaus mit dem Mittleren und dem Fernen Osten. Außer
Pelzen, Honig und Bienenwachs lieferten die Slawen auch Menschen; die
Bezeichnung "Sklave" erinnert noch heute an diesen 1 Handel Der
rege Tauschverkehr Rußlands brachte eine ganze Reihe von Städten zum
Aufblühen, vor allem die beiden genannten, von denen Nowgorod mehr nach
Skandinavien und Kiew mehr nach Byzanz orientiert war.
Häufig in der Geschichte sind Handelsstraßen zu Wegen für
kriegerische Eroberer geworden, und so stießen denn auch in Rußland im
Jahre 860 von Norden her die normannischen Waräger bis nach Nowgorod vor,
wo ihr Fürst Rurik ein Herrscherhaus gründete, das erst 1598 mit dem
Tode des Zaren Fjodor Iwanowitsch erlöschen sollte. Bei dem Unternehmen
der Waräger handelte es sich nur um einen der vielen Züge, die damals
die Wikinger nach Frankreich, nach England, ja bis ans Mittelmeer
führten. Wo die Eindringlinge Fuß zu fassen vermochten, bildeten sie
eine Herrenschicht heraus, die oft zielbewußter und besser regierte, als
es die Einheimischen vermocht hatten. Den Normannen gelang es
schließlich, einen festen südrussischen Staat mit Kiew als Mittelpunkt
zu errichten.
War so die weltliche Macht, die das Schicksal Rußlands auf
Jahrhunderte hinaus bestimmen sollte, von Norden her vorgedrungen, so
gelangte das Christentum vom Süden her, von Byzanz, dem Dnjepr entlang,
nach Kiew und wurde im Jahre 988 von Wladimir dem Heiligen zur
Staatsreligion erhoben. Mit der neuen Religion kamen auch ihre Vertreter
ins Land. Der Metropolit, wie man das Oberhaupt der gesamten russisch
christlichen Kirche nannte, und der größte Teil der Bischöfe und der
Äbte waren anfangs Griechen, und lange noch bedurften die Metropoliten
der Bestätigung durch den Patriarchen in Konstantinopel. Erst mit dem
Zerfall des byzantinischen Reiches und vollends nach der Eroberung seiner
Hauptstadt durch die Türken im Jahre 1453 gewann die russische Kirche
ihre Selbständigkeit. Zusammen mit dem Christentum wurde auch ein großer
Teil der byzantinischen Kultur nach Rußland verpflanzt. Ihr Einfluß
zeigt sich in der kirchlichen Architektur, im Stile der Heiligenbilder und
im Schrifttum. Bemerkenswert sind an der russischen Kunst die Pflege des
Mosaiks nach griechischem Vorbild und die Zwiebelkuppel, eine
Weiterbildung der byzantinischen Rundkuppel.
Eine große zivilisatorische Aufgabe erfüllten die Klöster, und zwar
nicht nur als Stätten der Gelehrsamkeit und als Schulen, sondern auch auf
wirtschaftlichem Gebiet, vor allem bei der Innenkolonisation, der
angesichts der vielen schwach oder gar nicht besiedelten Gegenden
Rußlands bis in die Gegenwart hinein eine wichtige Rolle zukommt.
Der Einfluß des Mönchtums auf die gesamte Lebens- und Denkart der
altrussischen Gesellschaft war umfassend. Askese und Frömmigkeit waren
ihre höchsten Ideale, Ehrfurcht vor dem Geistlichen galt als
selbstverständlich, die Literatur befaßte sich nahezu ausschließlich
mit religiösen Fragen. Manche Zaren demütigten sich wie Kinder vor ihren
geistlichen Beratern, und das Leben am Hofe war vom Morgen bis zum Abend
von rituellen Übungen ausgefüllt und entbehrte der weltlichen
Geselligkeit fast ganz. Im Volke war der religiöse Eifer um nichts
geringer; man glühte im Wunsche, es den Heiligen gleichzutun, von deren
heroischen Glaubensanstrengungen zahlreiche Legenden erzählten. Da sich
die Einsiedler in menschenleere Gegenden zurückzogen, sich dort aber oft
zu Klostergemeinschaften zusammenfanden, die ihrerseits zu Urzellen von
Ansiedlungen wurden, wirkte sich das religiöse Streben als starker
Antrieb zur Innenkolonisation aus. Von den Mönchen wurden Wälder
gerodet, Felder bestellt, Steppenbewohner bekehrt, und diese
kulturfördernde Tätigkeit kam auch nicht zu in Stillstand, als vom 13.
bis zum 15. Jahrhundert große Teile Rußlands unter dem Joche der Tataren
schmachteten. Dieses Eroberervolk respektierte die christliche Religion
und gewährte den Klöstern Steuerfreiheit. Man kann darin eine
weitblickende Maßnahme Temudschins (1162-1227) oder, wie er sich nannte,
des "Dschingis-Chan" (großer König), sehen, der wohl auch
hervorragende Regentenfähigkeiten besaß und zu Unrecht als bloßer
Gewaltmensch angesehen wird.
Dennoch war die Tatarenherrschaft ein nationales Unglück für Rußland;
Städte wie Kiew erholten sich auf Jahrhunderte hinaus nicht mehr von den
erlittenen Zerstörungen und boten sich dem Auge noch zur Zeit Peter des
Großen als Ruinenfelder dar. Die harte und unbarmherzige Fremdherrschaft
erwies sich aber auch als nachteilig für den Volkscharakter, war doch am
Hofe des Chans nur mit Bestechung und Kriecherei etwas auszurichten.
Manche Einrichtungen des Tatarenreiches, vor allem das Steuersystem, das
einer raffinierten Ausbeutung der Untertanen gleichkam, wurden später von
den Zaren nachgeahmt, und der oft erwähnte "asiatische" Zug im
russischen Regierungssystem wäre eigentlich besser "tatarisch"
zu nennen. Daß es den Russen nicht gelang, den Ansturm des ursprünglich
am oberen Amur beheimateten, nicht verweichlichten kriegerischen
Reitervolkes abzuwehren, hing mit dem inneren Zerfall ihres eigenen
Staates zusammen. Ein merkwürdiges Erbfolgegesetz, nach dem alle
Nachkommen eines Fürsten, nicht nur der älteste, zu berücksichtigen
waren, hatte zu einer weit gehenden Zerstückelung des Reiches geführt.
Nur gelegentlich schloß man sich zur Verteidigung gegen die Tataren
zusammen, und auch dann fehlte dem Unternehmen die einheitliche Leitung.
Außerdem war auch der russische Handel mit Byzanz immer weiter
zurückgegangen, war dieses doch allmählich von den italienischen
Meerhäfen überflügelt und während der Kreuzzüge schwer heimgesucht
und 1204 auf Anstiften Venedigs von französischen Kreuzfahrern erobert
worden. So war es ein morsches Gebäude, dem die Tataren den letzten Stoß
gaben, als sie ihren Herrschaftsbereich, der umfangreiche Gebiete von
China und ganz Zentralasien umfaßte, bis an den Dnjepr (Kiew fiel im
Jahre 1240) ausdehnten.
Die Grausamkeit der Eroberer verbreitete einen solchen Schrecken, daß
ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung sich an die obere Wolga
umsiedelte. Dadurch erhielt dieses Gebiet zum erstenmale eine besondere
Bedeutung innerhalb Rußlands, wobei Moskau am Anfang nur eine Nebenrolle
spielte. Allmählich aber gelang es seinen Fürsten dank ihrem Reichtum -
im Gebiet Moskaus wurde eine Menge Honig und Wachs gewonnen - sich am
Tatarenhof, bei der "goldenen Horde", in Gunst zu setzen und
sich eine Sonderstellung zu schaffen. Im Jahre
1326 wurden diese Bestrebungen durch die Übersiedelung
des Metropoliten von Kiew nach Moskau gekrönt. Planmäßig
"sammelten" die Herrscher von Moskau die russische Erde um sich
und bereiteten schließlich sogar die Erhebung gegen die Tataren vor. 1380
kam es unter Dimitrij Donskoi (1362 - 13 89) zu einer Schlacht auf den Kulikowschen Feldern,
die mit der Niederlage der Tataren endigte. Schon zwei Jahre später
wandte sich das Geschick, und unter Tochtamysch, einem Feldherrn
Timurlenks (1336-1405), wurde Moskau in Brand
gesteckt. Aber das wieder erwachte Selbstbewußtsein der Russen ließ sich
nicht mehr endgültig unterdrücken, zumal
inzwischen das tatarische Staatswesen seinerseits aus heute kaum mehr feststellbaren Gründen in einen
unaufhaltsamen Zerfall geraten war.
Als mit der Einnahme Konstantinopels durch die Türken 1453 der alte
Mittelpunkt der griechisch-orthodoxen Religion
verschwand, vermochte das inzwischen wieder aufgebaute und von neuem stark
gewordene Moskau als das sogenannte dritte Rom seine Erbschaft anzutreten. Übernahm es so nicht nur die geistig
führende Rolle des vernichteten Kiew, sondern sogar die von Byzanz, so
sollte es kurz darauf, im Jahre 1479, auch die politische Macht des alten
nördlichen Zentrums Rußlands, nämlich der Stadt Nowgorod, durch deren
Eroberung an sich reißen. Damit war von Moskau aus die Einigung Rußlands
vollzogen, und dank den von den Tataren übernommenen Regierungsmethoden
vermochten die Zaren nach innen und außen eine geachtete und gefürchtete
Herrschaft aufzurichten. Besonders lwan der Schreckliche (1533 -1584)
festigte die Alleinherrschaft, indem er die Macht der Adligen, der
Bojaren, brach und ihre Familien in grauenvollen Gemetzeln ausrottete.
Dabei stützte er sich während einer gewissen Zeit auf eine treu ergebene
Leibwache (die sogenannte "Opritschnina"), deren Mitglieder auf
geraubten Bojarengütern angesiedelt wurden. Nach außen pflegte lwan
Handelsbeziehungen zu den westeuropäischen Staaten, wie z. B. England,
dehnte sein Reich durch die Eroberung von Kasan und von Astrachan bis an
die Wolga aus und gewann Sibirien.
Anderseits war das Blutbad, das Iwan unter den Bojaren angerichtet hatte -
auch den eigenen Thronfolger hatte er im Jähzorn erschlagen - der Beginn
endloser Wirren, in denen schließlich die Dynastie Rurik unterging und
die der Romanow an ihre Stelle trat. In der Zeit innerer Wirren richteten
sich nicht nur die verschiedenen Klassen des russischen Volkes in heftigen Kämpfen gegenseitig zugrunde, sondern es
ergriffen ausländische Mächte, wie Polen und Schweden, mannigfaltige
Gelegenheiten zu militärischer Einmischung. Erste Aufgabe der Romanow war
es, Ordnung in dieses Chaos zu bringen.
Obgleich mit der Wahl von Michail Fjodorowitsch Romanow
zum Zaren (1613 bis 1645) durch den "Semskij Sobòr"
(Landesversammlung) die sogenannte Smuta, die Zeit der Wirren, im
wesentlichen abgeschlossen war, vermochte der russische Staat der inneren
Krisen auf lange Zeit hinaus nicht Herr zu werden, und die durchgreifenden
Umwälzungen unter Peter dem Großen
finden ihre Vorläufer in mannigfachen Gärungen während des ganzen 17,
Jahrhunderts. Wenn sich Peter entschlossen mit dem Volke gegen die
Vorrechte der Bojaren verbündete, so stellt e er sich einfach an die
Spitze einer Bewegung, die seit der "Smuta" nie erloschen war
und verschiedentlich sogar zur Erhebung falscher Zaren geführt hatte, die
behaupteten, widerrechtlich verstoßene Thronerben zu sein, und
versprachen, die wahren Interessen der Bevölkerung gegen die sie
ausbeutenden Großen vertreten zu wollen.
Auch Peters Versuche, Rußland mit Gewalt zu verwestlichen, beruhten
auf dem Bestreben, das schon die letzten Rurik und die ersten Romanow
erfüllt hatte: Alle trachteten danach, westliche Techniker und Fachleute
zu gewinnen für die Aufstellung einer den polnischen und den schwedischen
Armeen gewachsenen russischen Heeresmacht. Sogar Peters Kirchenreformen
konnten an vorbereitende Geschehnisse anknüpfen: unter dem sogenannten
sanften Zaren Alexej Michajlowitsch (1645-1676) hatte der Patriarch Nikon
(1605-1681) versucht, die Liturgie von eingedrungenen Widersprüchen zu
reinigen und auf die Riten der byzantinischen Kirche zurückzugreifen, was
auf den heftigen Widerstand vieler Altgläubiger, der "Raskolniki",
gestoßen war. So waren denn die Aufgaben, die sich Peter der Große
stellte, nicht willkürlich gewählt, sie waren vielmehr geschichtlich
bedingt und in der Entwicklung vorgezeichnet seit der Abschüttelung des
Tatarenjoches durch die Russen und seit deren Eintritt in die Geschichte
Europas als Großmacht. Ungewöhnlich war allerdings die eiserne
Folgerichtigkeit und. die Unbedingtheit, mit der Peter der Große seine
Ziele verfolgte.
Von Dr. Hans Küry
Begeisterte europäische Freunde aus der Nemézkaja Sloboda, dem
Moskauer Viertel der Deutschen und anderer Ausländer, gaben dem Zaren
Peter 1. schon sehr früh, nämlich als er erst zwanzig Jahre alt war, den
Beinamen "der Große". Wenn sie den jungen Monarchen so
enthusiastisch auf den Schild hoben, geschah es zum Teil, weil sie, die
von der russischen Gesellschaft als Ketzer ferngehalten wurden, in ihm,
der frei und häufig mit ihnen verkehrte, einen der Ihren sahen; zum Teil
aber, weil sie den Lerneifer bewunderten, mit dem der Zar in die
europäische Kultur, Wissenschaft und Technik einzudringen versuchte. So
hoch aber Peter von seinen Anhängern gepriesen wurde, so heftig
verdammten ihn seine Feinde, die Vertreter des alten,
griechisch-orthodoxen Rußland. Sie sahen in ihm den Antichrist, der die
geheiligten Bräuche der Kirche abschaffte, die Ehrfurcht vor den
Geistlichen ins Lächerliche zog, den zersetzenden Einflüssen des Westens
Tür und Tor öffnete und an Stelle der Religion weltlichen Bestrebungen
Vorschub leistete. Auch die Nachwelt hat sich in der Beurteilung Peters
stets in zwei Parteien geteilt, wovon die eine in ihm den eigentlichen
Schöpfer einer russischen Kultur sieht, die andere gerade umgekehrt ihren
Zerstörer.
Eines muß man Peter dem Großen auf alle Fälle zubilligen: Unter seiner
Herrschaft, von ihm veranlaßt, hat sich in Rußland eine Wandlung
vollzogen, die unter die größten Revolutionen der Weltgeschichte zu
rechnen ist. Eine so tiefgreifende Umwälzung kann nicht das Werk eines
einzelnen gewesen sein; im vorhergehenden Artikel sind die wichtigsten
geschichtlichen Voraussetzungen dargetan worden, die sie ermöglicht
haben.
Es ist eine merkwürdige Fügung, daß das Schicksal gerade aus einem
Zaren den Mann geschmiedet hat, der die schon vor ihm in die Wege
geleitete Europäisierung Rußlands am kräftigsten zu fördern verstand.
Außerordentlich viel hatte Peter seiner Mutter, Natalja Kirillowna
Naryschkin, zu verdanken, der zweiten Gemahlin des Zaren Alexej
Michajlowitsch, die aus einer einfachen Familie stammte und 1670
anläßlich einer nach altrussischer Sitte abgehaltenen Brautschau aus
siebzig der schönsten Jungfrauen zur Gefährtin des Herrschers erkoren
worden war .
Nataljas Mutter gehörte zu der in Rußland angesiedelten schottischen
Familie Hamilton und eine nahe Verwandte dieses Namens war mit dem
nachmaligen Bojaren Matwejew verheiratet, der sein Haus völlig nach
europäischem Muster führte und Gesellschaften veranstaltete, an denen
auch Damen teilnahmen, für das damalige Rußland eine ungeheuerliche
Neuerung. In diesem Milieu hatte sich die junge Natalja sehr oft bewegt,
und es ist nicht zu verwundern, daß sie, Zarin geworden, nicht willens
war, ihre europäische Denkart aufzugeben, sie vermochte den Zaren sogar
dazu zu bewegen, am Hofe Musik und Theater, ja Ballette einzuführen.
Ebenso zog sie ihre Verwandten, besonders den genannten Matwejew und seine
Gemahlin, in ihre Umgebung und verschaffte ihnen großen Einfluß.
Willfahrte der Zar, den eine tiefe Leidenschaft an seine Gattin fesselte,
weitgehend ihren Wünschen, so war die Feindschaft uni so größer, die
ihr von anderer Seite entgegengebracht wurde, nämlich von der Familie der
ersten, verstorbenen Frau des Zaren, den mächtigen Miloslwyskij, die sich
durch die zweite Ehe des Herrschers in ihrer Machtstellung bedroht sahen.
Führerin dieser Partei wurde immer mehr die jüngste Tochter des Zaren
aus erster Ehe , die ehrgeizige Sophie.
Der am 30. Mai 1672 geborene Peter wurde schon in frühester Jugend in den
Kampf dieser Parteien hineingerissen. Nach dem Tode seines Vaters und
seines ältesten Stiefbruders Fjodor Alexejewitsch, der nur sechs Jahre
regiert hatte, riefen 1682 die Stände von Moskau, das heißt die Bürger
und Dienstleute, Peter zum Zaren aus unter Hintansetzung seines legitimen,
aber wegen Schwachsinns kaum zur Herrschaft fähigen zweiten Stiefbruders
lwan. Die Partei Sophies und der Miloslawskij gab sich aber noch nicht
verloren, sie wiegelten die sogenannten Strelitzen, die Leibwache des
Zaren, zum Aufstand auf und erzwangen die Krönung Iwans so daß es bis zu
dessen Tode (1689) zwei Zaren gab, die übrigens in gutem Einvernehmen
standen, war lwan seinem jüngeren Bruder doch sehr zugetan. Später haben
sich die Strelitzen noch
verschiedentlich gegen Peter erhoben, er warf aber ihre Aufstände nieder,
besonders brutal den von 1689, nach dessen Scheitern Sophie, die bisher
für die beiden Zaren die Regentschaft geführt hatte, ins Kloster
verbannt wurde. Während der dramatischen Ereignisse im Jahre 1682 erlebte
der zehnjährige Peter ein paar grauenvolle Szenen, die sich seinem
Gedächtnis unauslöschlich einprägten: neben seiner Mutter auf der
Treppe des Palastes stehend, mußte er mit ansehen, wie die Strelitzen die
getreuesten Anhänger der Zarin niedermetzelten und mit entblößten
Waffen die Säle und Räume durchsuchten. Die tobenden Rebellen handelten
nicht nur im Auftrage der nach Macht lüsternen Miloslawskij sie
gebärdeten sich gleichzeitig als Verteidiger des alten, orthodoxen,
kirchlichen Rußland. Der Haß und die Verachtung, die Peter von Zeit zu
Zeit den altehrwürdigen Einrichtungen seines Landes entgegenbrachte,
mögen in diesen schweren Stunden in ihm aufgekeimt sein; besonders auch
deshalb, weil seine Mutter und der Bojar Matwejew, der sich der Erziehung
Peters angenommen hatte, ihn von klein auf mit lauter europäischen Dingen
umgaben. Da gab es unter seinen Spielsachen Musikdosen mit "kleinen
und großen Zimbeln", ein Klavichord mit grünen Kupfersaiten, vor
allem aber kriegerische Gegenstände, wie Kanonen usw. Soldatenspiele
füllten die Hauptzeit des jungen Peter aus, daneben legte er sich unter
Anleitung seines Lehrers Sotow "Unterhaltungshefte" an,
Sammlungen von Bildern von fremden Städten, bemerkenswerten Gebäuden,
Schiffen, Waffen, Schlachten. Nach dem Strelitzenaufstand von 1682 und der
Übernahme der Regentschaft durch Sophie siedelte die Zarenwitwe mit ihrem
Knaben nach Preobrashénskoje bei Moskau über, wo Peter in rein
ländlicher Umgebung ein für einen Monarchen außerordentlich
ungebundenes Leben mit Altersgenossen, vorwiegend aus unteren
Volksschichten, führte. Er bildete aus ihnen zwei Kompanien, und ganz
allmählich wurde aus dem Soldatenspiel Ernst, in Manövern übte der
spätere Kriegsherr seine strategischen Fähigkeiten. Wie gründlich er es
damit nahm, beweist der Umstand, daß ein eigenes befestigtes Städtchen,
Pleßburg, errichtet wurde, um daran Belagerungen vorzunehmen. Damit er
tiefer in die Technik des Kriegshandwerkes und die damit
zusammenhängenden Wissensgebiete, wie Arithmetik, Geometrie,
Ingenieurwesen, eindringen konnte, suchte Peter Rat bei den Ausländern in
der Nemézkaja Sloboda und kam auf diese Weise in Kontakt mit den
Menschen, die bestimmend auf sein ganzes Wesen einwirken sollten,
zunächst mit dem Ingenieur Franz Timmermann, der den Grund legte zu
Peters Interesse am Schiffsbau und zu seiner Absicht, eine große
russische Flotte zu schaffen. Noch tiefer aber wirkte der Genfer Francois
Lefort (1656-1699) auf den jungen Zaren ein, er wurde sein eigentlicher
Lehrmeister. Lefort war eine Abenteurernatur. Von seiner Familie zum
Kaufmann bestimmt, war er von seinem Tatendrang dazu getrieben worden,
Soldat zu werden, und nach mannigfachen Irrfahrten nach Moskau gelangt. Er
war ein gewandter, beweglicher Mensch, der viel gesehen hatte und als
trinkfester, anregender und vielwissender Gesellschafter ausgezeichnet mit
dem von Lebenskraft überschäumenden Peter harmonierte. Noch eine Menge
anderer Ausländer, Offiziere, Ärzte, Chirurgen, Apotheker, Kaufleute und
Handwerker, lernte Peter in der deutschen Sloboda kennen und versuchte von
ihnen zu lernen. Bezeichnend für ihn war, daß ihm eine theoretische
Auskunft nie genügte, er wollte alles selber ausführen und scheute sich
nicht, in Werften neben Arbeitern Hand anzulegen. Es gab schließlich kaum
ein Handwerk und kaum eine Technik, vom Schiffsbau bis zum Zähneziehen,
die er nicht geschickt zu meistern verstand. Nach seinem Tode fand sich
überall, wo er sich aufgehalten hatte, eine Unmenge von ihm selbst
verfertigter Sächelchen, Stühle, Geschirr, Tabaksdosen - wie er diese
Gegenstände neben seinen anstrengenden Regierungsgeschäften und seinen
nicht weniger zeitraubenden Trinkorgien herstellen konnte, ist ein wahres
Rätsel.
Das Ungestüm, mit dem Peter die ihm neue Welt des westlichen Denkens
und Wirkens zu erobern trachtete, zeigte sich besonders auffallend, als
er, fünfundzwanzigjährig, 1697, endlich die lang ersehnte Reise nach
Westeuropa antrat, indem er unter dem Namen Peter Michailow eine
Gesandtschaft begleitete, die an die europäischen Höfe reiste, um
Verbündete gegen die Türken zu finden, vor allem aber - diese Absicht
wurde streng geheimgehalten - um europäische Seeleute, Techniker und
Handwerker für russische Dienste anzuwerben. Die Gesandtschaft war im
Grunde nichts anderes als eine Expedition mit dem Auftrag, den Europäern
so viel als möglich abzulernen und Fachleute mit nach Hause zu bringen.
Peter selbst versuchte, sich mit Feuereifer weiterzubilden; kaum in
Königsberg angekommen, nahm er bei einem preußischen Oberst Unterricht
im Artilleriewesen. Möglichst rasch aber zog er weiter nach Holland und
England, wo er besonders viel zu lernen hoffte. Im holländischen
Städtchen Saardam arbeitete er eine Zeitlang als gewöhnlicher Zimmermann
in einer Privatwerft. In den Mußestunden besuchte er gewerbliche Betriebe
aller Art, Sägereien, Mühlen usw. Auf der Werft der
Holländisch-Ostindischen Kompagnie setzte er seine Ausbildung fort,
begreiflicherweise war er das Tagesgespräch und der Anziehungspunkt für
viele Neugierige. Peter und seine Russen bauten eine eigene Fregatte, die
man nach neun Wochen vom Stapel ließ. Außerdem fand der Zar noch Zeit
dazu, Vorlesungen zu hören, Operationen und öffentlichen Sektionen
beizuwohnen, Kunstkammern, Hospitäler, Erziehungsanstalten, das
Observatorium, das Theater usw. zu besuchen, Kriegs- und Handelsschiffe zu
besichtigen. Nicht weniger eifrig sah sich Peter in England um, wo er der
"Royal Society" einen Besuch abstattete, in Deptford auf der
königlichen Werft arbeitete, in Woolwich sich mit dem Anfertigen von
Artilleriegeschossen abgab und sich im Bedienen von Geschützen übte und
in Portsmouth die einer sorgfältigen Besichtigung unterzog. Sogar im
Parlament tauchte Peter auf, doch nur incognito. Er soll bei dieser
Gelegenheit zu einem Begleiter geäußert haben: "Es ist eine Lust zu
hören, wenn Untertanen ihrem Herrscher offen die Wahrheit sagen; das
müßte man bei den Engländern lernen."
Die Wirkung Peters auf die Westeuropäer war zwiespältig; bewunderte
man seine Energie, seine Lernbegabung, sein Wissen und Können, so
entsetzte man sich anderseits über seine Grobheit, seine derben Trink-
und Eßsitten. Man betrachtete ihn als eine Mischung aus einem Despoten
und einem Halbwilden. Peter selbst nahm eine Menge von Eindrücken und neu
erworbenen Kenntnisse mit nach Hause und begann sofort nach der
Niederschlagung des Strelitzenaufstandes von 1698 weittragende Pläne in
die Tat, umzusetzen.
Durch seinen Umgang mit Fremden und seinen Aufenthalt in Westeuropa war
der Zar besser als irgendeiner seiner Vorgänger in die westeuropäische
Politik eingeführt worden, und er mußte den Drang empfinden, Rußland
von seiner Zersplitterung und aus seiner Isoliertheit zu befreien. Zu
diesem Zwecke führte er eine ganze Reihe von Kriegen; von
fünfunddreißig Jahren seiner Regierungszeit brachte er alles in allem
wenig mehr als zwei Jahre im Frieden zu. Zwei Ziele hatte sich Peter als
Kriegsherr gesteckt: den innern Zusammenschluß Rußlands einerseits und
anderseits die Berichtigung seiner Grenzen, so daß es im Süden und
Westen gegen Überfälle gedeckt sein würde. Trotz vielen Rückschlägen
im Laufe seiner Regierung gelang es Peter im Nystader Frieden (1721),
Estland, Livland, Ingermanland und Karellen zu erwerben und 1723 die
Abtretung der Westküste des Kaspisees durch die Perser zu erzwingen.
Diese großen Siege wären unmöglich gewesen ohne eine völlige
Umgestaltung des Heeres und der Verwaltung nach europäischem Muster. In
seinem Reformwerk ging Peter rücksichtslos und despotisch bis aufs
äußerste vor, so daß in den letzten Jahren das durch Kriege, deren
Vorbereitung und durch Zwangseinquartierungen erschöpfte Volk unter
seiner Herrschaft schwer seufzte.
Gerade die ärmeren Schichten murrten gegen den Neuerer, der ihre
Lebensweise erbarmungslos ändern wollte. Der Kampf gegen die alte
russische Tracht, den Kaftan und den Bart, den Peter 1700 einleitete, war
nur sinnbildlich für einen einschneidenden Eingriff ins tägliche Leben
der Russen.
Die langen Ärmel und der unpraktische Schnitt des Kaftans hatten ein
beschauliches, unbewegliches Dasein geradezu zur Voraussetzung; wenn Peter
nach der Rückkehr von seiner Reise nach Westeuropa als erstes diese
Tracht abzuschaffen sich bestrebte, so beseelte ihn dabei die Absicht, aus
seinen Untertanen eine werktätige Bevölkerung im Sinne der westlichen
Nationen zu bilden. Der erbitterte Kampf der Gegenseite für die
überlieferte Kleidung war keineswegs sinnlos: Überall in der
Kulturgeschichte zeigt sich, daß die Preisgabe der einheimischen Tracht
schließlich das Aussterben der überkommenen Denkart zur Folge hat. Es
zeugt deshalb von geringem historischem Verständnis, die Verteidiger von
Kaftan und Bärten ins Lächerliche
zu ziehen. Die altrussische Kleidung war für sie wirksames Symbol der
Orthodoxie.
Peter anderseits würde man Unrecht tun, wollte man sein Vorgehen an
heutigen Maßstäben messen. Als Mensch des 17. Jahrhunderts hatte er
keinen Sinn für das Organische in der geschichtlichen Entwicklung. Wie
man eine Uhr repariert, so glaubte er, Rußland auf einen Schlag
reformieren zu können. Wer sich seinem Willen entgegenstellte, den
zerschmetterte er. Die orthodoxe Kirche, den stärksten Wall gegen
Neuerungen, schwächte er, indem er die Patriarchenwürde aufhob (1721)
und durch den "Allerheiligsten Synod " ersetzte, eine
Versammlung der höchsten kirchlichen Würdenträger; den eigenen Sohn,
Alexej, lockte er aus dem Ausland zurück, ließ ihn unter nichtigen
Vorwänden vor Gericht stellen und erbarmungslos hinrichten, da er
Anhänger des Alten war.
Die Staatsaufsicht verschärfte er bis zum kaum noch Erträglichen, dem
Volke legte er harte Steuern auf, in die Wirtschaft griff er energisch
ein, befahl die Aufnahme von Produktionszweigen schrieb den Webern die
Technik und die Maße ihrer Arbeit vor. Er unterschied sich hierin wenig
von seinen Zeitgenossen, den aufgeklärten Despoten, die sich als Väter
ihrer Untertanen fühlten und sich oft an den Satz hielten: "Wer
seinen Sohn liebhat, der züchtiget ihn".
Auch persönlich haftete Peter etwas Gewalttätiges an. Er zwang seine
Bekannten und Freunde, an Lustbarkeiten teilzunehmen, die in eigentliche
Strapazen ausarteten, und erlaubte sich oft sehr derbe Spässe mit ihnen.
An Gestalt ein Riese - er soll zwei Meter zehn gemessen haben - und an
Kraft ein Athlet, ertrug es Peter nur schwer, daß andere mit seinem
heftig überschäumenden Lebensrhythmus nicht Schritt zu halten
vermochten. Im Grunde von großer, geradezu kindlicher Gutmütigkeit,
konnte er hie und da heftige Wutanfälle bekommen, die am besten seine
zweite Gemahlin, die spätere Katharina 1. zu besänftigen verstand. Allem
Zeremoniellen und Künstlichen war Peter abhold, mit seiner Umgebung
pflegte er einen natürlichen und freundschaftlichen Umgangston. Was ihn
aber besonders bemerkenswert erscheinen lief, das war sein ausgeprägtes,
nie erlahmendes Pflichtbewußtsein.
Wie der Hinschied manches Herrschers, der große Pläne zu verwirklichen
strebte und das Volk zu außerordentlichen Anstrengungen anspornte, wurde
auch der Tod Peters im Jahre 172 5 fast wie eine Erlösung empfunden. In
der Europäisierung Rußlands trat unter seinen Nachfolgern kein
Stillstand ein, wohl aber vollzog sie sich in einem etwas gemächlicheren
Tempo, so daß fremde und einheimische Kulturwerte schmerzloser und besser
ineinander verschmelzen konnten als unter der ungestümen Regierung Peters
des Großen.
Von Dr. Hans Küry und Dr. Hansjürg Joller
Eine medizinische Wissenschaft im Sinne z.B. der griechischen oder der
mittelalterlich-europäischen gab es in Rußland während Jahrhunderten
nicht. Im Gefolge des kulturellen Austausches zwischen Kiew und Byzanz
mochten zwar manchmal auch griechische Ärzte oder medizinisch gebildete
Mönche auf russisches Gebiet gelangen, abe sie
blieben vereinzelt. Zur Ausbildung einer eigenständigen russischen
Medizin fehlten eine kulturell-wissenschaftliche Tradition und
einheimische Universitäten oder ähnliche Lehranstalten.
Außerdem waren die besonderen Lebensbedingungen des russischen Volkes
wenig dazu angetan, die Entstehung eines Ärztestandes zu fördern. In den
weiten Räumen lagen die Siedlungen, Dörfer und
Städte zerstreut und einsam, oft durch unwegsame Wälder von der Umwelt
abgeschlossen. Der durch das kontinentale Klima bedingte schroffe Wechsel
zwischen großer Hitze und eisiger Kälte sowie die einfacheLebensführung
bewirkten eine außerordent liche körperliche Abhärtung der Russen;ihre
vitale Kraft und unverwüstliche Ge sundheit sind zu allen Zeiten von
Schriftstellern hervorgehoben worden. So schreibt Heinrich-Friedrich von
Storch in seinem "Historisch-statistischen Gemälde des Russischen
Reichs" (Riga 1797-1803): Die körperliche Beschaffenheit der Russen
ist vortrefflich. Ihre glückliche Organisation, ihr heiterer froher Sinn,
die Abhärtung zu jedem Ungemache,die natürliche einfache Lebensart und
das rauhe, aber trockene und gesunde Klima verschaffen einen Grad von
physischem Wohl sein, dessen sich nur wenige Nationen rühmen können. Die
Russen sind mit einer Vitali tät begabt, von weicher man in andern Län
dern fast gar kein Beispiel bat, Hunger und Durst,
Mangel an Bequemlichkeit und Ruhe kann der Russe weit länger als andere
Nationen ertragen. Es gibt unter dem Volke wenig herrschende,
eigentümliche Krankheiten und gegen die meisten derselben weiß es sich
durch einfache Diät und ungekünstelte Heilmittel zu schützen."
Seit alters gab es in Rußland den sogenannten Koslopraw, einen Arzt, der
sich mit der Behandlung von Beinbrüchen und Verrenkungen abgab; er war
aber ein bloßer Handwerker, ähnlich dem mittelalterlichen Chirurgen. Zur
Pflege der Gesundheit im allgemeinen bediente man sich einer
althergebrachten Hausvätermedizin; jeder war nicht nur sein eigener Weber
und Bäcker, sondern auch sein eigener Arzt, womit man sich um so eher
zufrieden gab, als man in keiner Weise verweichlicht war.Der größte Teil
des Volkes lebte in einfachen Holzhäusern aus übereinandergefügten
Balken mit kleinen Fenstern. Eine einzige Stube, die mit Backofen, Tisch,
Bank und mit einem Waschkübel versehen war, genügte für die größte
Familie; nur vornehme Leute bewohnten mehrere Räume. Als Tapeten dienten
Strohmatten und als Schlafstellen lange Bänke, auf die man Stroh oder
eine Matratze legte, dagegen gab es keine Federbetten. Backsteinbauten
kamen erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und nur in den
Hauptstädten auf. Ebenso einfach wie die Wohn- und Schlafverhältnisse
war die Kleidung. der Hals blieb bei jeder Witterung frei, anstatt der
Strümpfe wurden Tuchlappen um die Füße gewunden, und darüber Schuhe
aus Bast angezogen. Auch die Nahrung war so beschaffen, daß sie der
Gesundheit eher zuals abträglich war; die gewöhnliche Speise bestand in
Roggenbrot, Kohlsuppe, Grütze und Gurken. Fleisch wurde wenig genossen;
eine große Rolle als Bestandteil in allerlei Nationalgerichten spielte
die Zwiebel. Als Hauptgetränk diente der aus Roggenbrot oder aus
Früchten hergestellte Kwas, eine Art von Bier. Die Anwohner der Wolga
nährten sich zu einem großen Teil von Fischen, die der Strom in reicher
Fülle spendet. Von dieser einfachen Lebensführung des Volkes stach schon
früh die Pracht am Hofe der Zaren ab; aus verschiedenen Jahrhunderten
gibt es Beschreibungen des Reichtums an goldenem Geschirr und Besteck, der
ausgesuchten Weine und der Tafelfreuden am Hofe aber dieser Luxus bildete
eine Insel inmitten der allgemeinen Anspruchslosigkeit.
Wie im frühmittelalterlichen europäischen Westen trugen auch in Rußland
die Dampf- und Schwitzbäder viel zur Erhaltung der Gesundheit bei. In der
vielleicht irrtümlicherweise dem russischen Mönch und
Geschichtsschreiber Nestor (1056 - um 1114) zugeschriebenen Chronik findet
sich eine Beschreibung dieser Bäder: "Ich sah hölzerne Bäder und steinerne Öfen, die sie stark heizten. In diese
gehen sie und ziehen sich nackend aus. Dann begießen sie sich mit lauem
Wasser und nehmen Ruten oder zarte Baumzweige, peitschen sich damit,
gießen indes Wasser auf die Steine ... Bei dem Herausgehen begießen sie
sich mit kaltem Wasser ... "
1091 ließ der Erzbischof von Perejaslawlj und nachmalige Kiewsche
Metropolit Ephrem öffentliche Badehäuser anlegen. Nach verschiedenen
Zeugen gab es keine Stadt ohne Badestuben. Diese ähnelten den finnischen
Saunabädern. Das Dampf bad war das Hauptvorbeugungsmittel gegen
Krankheiten.
Ein Russe, der trotz allen Vorbeugungsmaßnahmen und trotz der gesunden
Lebensführung von einer Krankheit befallen wurde, nahm seine Zuflucht
entweder zu altem heidnischem Zauber, den das Christentum nicht
vollständig zu verdrängen vermocht hatte, oder er flehte wundertätige
Heiligenbilder und Reliquien um Hilfe an. Wenn man aber aus dem Zustand in
späteren Jahrhunderten zurückschließen darf, gab es neben diesen
magisch oder religiös gerichteten Heilungsmöglichkeiten gewiß auch
einen großen Schatz praktisch erprobter Haus- und Volksmittelchen wie
Salben, Teearten, Bäder mit heilenden Zusätzen; auch der Branntwein mag
zu medizinischen Zwecken gedient haben.
Die Ansätze zu einem selbständigen Medizinalwesen auf
russischem Boden sind indessen in den von christlichem Geiste getragenen
Bemühungen der Mönche und Klöster um die Pflege der Kranken zu suchen.
Die russischen Geistlichen hatten die letztlich auf die Heilwunder Christi
zurückgehende Tradition der Fürsorge für die Kranken von der
byzantinischen Kirche übernommen.
In Byzanz gab es schon zur Zeit, als das Christentum zur Staatsreligion
erhoben wurde, also unter Konstantin dem Großen (306 bis 337),
Krankenhäuser und Badestuben. Auf dem Berge Athos, der seit den ältesten
Zeiten bis auf den heutigen Tag das geistige Zentrum der griechischen
Kirche geblieben ist, befand sich neben den Klöstern immer auch ein
Krankenhaus, und diesen Brauch haben auch die russischen Klöster, die
unmittelbar auf deren Vorbild zurückgingen, beibehalten. In den
Anfangszeiten der Christianisierung mögen diesen Krankenstuben sogar
griechische Mönche vorgestanden haben.
Über den schon erwähnten perejaslawlischen Erzbischof Ephrem wird
überliefert, daß er im Jahre 1091 neben den ersten steinernen Kirchen
auch die ersten Krankenhäuser habe bauen lassen. Zu einer weitberühmten
Stätte der Heilkunst wurde aber vor allem das älteste russische Kloster,
nämlich das Petscherskij-Kloster in Kiew. In ihm wirkten die drei großen
"Heiligen-Ärzte" Antonius, Alympius und Agapyt, die im Rufe
standen, wunderbare Krankenheilungen zu vollbringen. Antonius soll Mönch
auf dein Berge Athos gewesen und von dort nach Kiew gekommen sein; in der
Chronik des Klosters werden seine Verdienste um die Krankenpflege
ausdrücklich hervorgehoben. Alympius lernte in seiner Jugend unter der
Anleitung griechischer Künstler das Malen von Heiligenbildern, und von
ihm wird berichtet, daß er einen reichen Bürger von Kiew von einem
hartnäckigen Gesichtsausschlag geheilt habe, indem er ihn mit Farbe
bestrich. Diese Heilmethode ging kaum von rationalen Überlegungen, z.B.
über die Zusammensetzung des Aufstrichs, aus, sondern von der Auffassung,
daß die für die lkonen verwendete Farbe, deren Mischung als
geheimnisreiche Kunst galt, heilig und damit auch Heilwunder bewirkend
sei. Vom heiligen Agapyt, dem der Beiname "der uneigennützige
Arzt" gegeben wurde, berichtet die Chronik, daß er die an Weissagung
grenzende Prognostik eines damals in Kiew lebenden armenischen Arztes
zuschanden werden ließ. Der Armenier hatte einem Bojaren den Tod binnen
einer Frist von acht Tagen vorausgesagt, dennoch gelang es dem heiligen
Agapyt, den Kranken zu retten. Mit demselben Armenier wetteiferte der
Heilige, als es galt, den Großfürsten Wladimir Wsewolodowitsch Monomach
(1113 bis 1125) von einer schweren Krankheit zu befreien, was, wie die
Chronik andeutet, mit Hilfe aus Alexandrien gekommener Kräuter gelang,
die Agapyt verschrieb. Diese mit legendenhaften Zügen ausgeschmückten
Heilberichte lassen erkennen, daß es mindestens im Bereich der alten
russischen Klöster eine Art primitiven Medizinalwesens gab.
Ansätze zu den einfachsten gesundheitspolizeilichen und hygienischen
-Maßnahmen werden hie und da in den Nachrichten über Hungersnöte und
Epidemien angedeutet, die während des Mittelalters wie in anderen
Ländern regelmäßig die Bevölkerung in erschreckendem Ausmaße
heimsuchten. In die Zeit Agapyts fällt auch die erste dokumentarisch
bezeugte Epidemie in Rußland; über ihren Charakter ist allerdings nichts
bekannt; innerhalb von vierzig Tagen soll sie 1092 7000 Menschen
dahingerafft haben. Im 12. Jahrhundert gesellten sich zu den
Bedrängnissen, in die die zahlreichen Thronstreitigkeiten der Fürsten
das Volk brachten, schwere Hungersnöte, von denen die 1158 in Nowgorod
herrschende die größten Verheerungen angerichtet zu haben scheint. Im
vorausgegangenen Jahr hatte bis zum 30. April Schnee gelegen, weshalb das
Spätkorn erfroren war. Eine furchtbare Hungersnot war die Folge. Die
Einwohner nährten sich von Lindenblättern, Birkenrinde, Moos, Stroh und
Pferdefleisch. Die Sterblichkeit war außergewöhnlich groß, und die
Hungersnot drohte ganz Nowgorod zu entvölkern. Überall in den Straßen
lagen Leichen umher, die von den Angehörigen nicht bestattet werden
konnten. Da griff die Regierung ein und ließ die Toten außerhalb der
Stadt begraben. Es handelt sich bei dieser Vorkehrung wohl um die erste
gesundheitspolizeiliche Maßnahme in Rußland. 1187 herrschte ein großes
Sterben in Nowgorod, von dem kaum ein Haus verschont blieb, und in den
Jahren 1215, 1229 und 1230 traten wieder Hungersnöte auf. Die Leichen
mußten in großen Erdgruben bestattet werden. Um die gleiche Zeit soll in
Smolensk die Pest oder eine ähnliche Seuche binnen zweier Jahre 32000
Tote gefordert haben, und 1237 starben in Pskow so viele Leute, daß in
allen Kirchen Gruben ausgehoben werden mußten, um die Toten aufzunehmen.
Wie für fast alle Länder der damaligen Welt, von China, Indien, Ägypten
bis ins westliche Europa, war auch für Rußland die in den Jahren 1348
bis 1352 um sich greifende Pestepidemie, der sogenannte Schwarze Tod, eine
Katastrophe von unvorstellbarem Grauen. In Rußland trat sie erst 1352
auf. Obwohl der Ursprungsherd dieser Seuche im Fernen Osten lag, scheint
sie nach Rußland nicht von Asien aus, sondern über Schweden, Dänemark
und Polen eingedrungen zu sein. Diese Epidemie, die das Motiv zur
Rahmenerzählung von Boccaccios "Decamerone" abgegeben hat und
die Petrarca seine Laura entriß, hat auch in Rußland die Gemüter
außerordentlich beeindruckt: man erwartete den Weltuntergang; Reiche
verschenkten ihr Hab und Gut, überall wurden Kirchen errichtet, um den
erzürnten Himmel zu versöhnen.
Die Krankheit hatte entzündlichen Charakter, Frost und Hitze, stechende
Schmerzen in Schultern und Rücken bildeten den Anfang, Blutspeien,
Schlaflosigkeit und Geistesstörungen folgten; von 1360 an werden auch
Drüsengeschwülste am Hals, an den Achseln und an den Weichen erwähnt;
der Tod trat meistens nach zwei oder drei Tagen ein. Die Zahl der Opfer
war so ungeheuer groß, daß es unmöglich war, sie alle zu bestatten.
Gesundheitspolizeiliche Maßnahmen gegen die Pest wurden später von Zar
Fjodor Iwanowitsch (1584-1598) oder genauer von dem für diesen
regierenden Boris Godunow ergriffen; er errichtete der Westgrenze des
Reiches entlang Stationen, in denen alle einreisenden Personen auf
ansteckende Krankheiten hin untersucht wurden.
Auch von der Lepra blieb Rußland nicht verschont, ihr Auftreten wird
erstmals im Jahre 1467 gemeldet; als Mittel gegen sie wurden in der Krim
Bäder in heißer Pferdemilch angeraten. Die Syphilis flammte in Rußland
zum erstenmal gegen das Ende des 15. Jahrhunderts auf, sie wurde
vermutlich von Polen aus eingeschleppt.
Die Zaren hatten aber im allgemeinen wohl weniger aus volkshygienischen
als aus ganz persönlichen Gründen das Bedürfnis nach einer Hebung der
Medizin. Ihr Herrscherleben war besonders kostbar, hingen doch von seiner
Dauer die Verwirklichung mancher Pläne und die Regelung der Nachfolge ab.
Schon frühzeitig zogen sie deshalb ausländische Ärzte an ihren Hof.
Einheimische Heilkundige waren, wie erwähnt worden ist, offenbar bloß
die Wundärzte. Daß es solche Wundärzte vor der Christianisierung gab,
beweist eine Stelle aus dem Rechtskodex "Ruskaja Prawda":
"Wenn jemand einen andern mit dem Schwerte verletzt, so hat er drei Griwnen allgemeine Buße, sowie an den Verletzten
eine Griwne und die Heilkosten zu bezahlen. " Diese Strafandrohung
setzt die Existenz von Wundärzten voraus, die gegen Entgelt wirkten. Der
Kodex wurde 1015 von Wladimir dem Heiligen bestätigt, sein Inhalt geht
aber zweifellos auf viel frühere Zeiten zurück. Außerdem ist in den
Gerichtsordnungen des 11. Jahrhunderts von Salben die Rede, mit deren
Hilfe die durch die Feuerprobe (Brennen mit glühenden Eisenstäben)
entstandenen Wunden und Brandmale zum Verschwinden gebracht werden
konnten: abermals ein Beweis für das Bestehen einer Wundpflege. Dafür,
daß eine bis zu einem gewissen Grade entwickelte Heilkunde bestand,
spricht auch die Angabe, daß dem Großfürsten Swjatosláw Jarosláwitsch
im Jahre 1076 eine Drüsengeschwulst durch chirurgischen Eingriff
beseitigt worden sei.
Ausgebildete Ärzte für innere Krankheiten scheinen dagegen schon in
früher Zeit aus dem Auslande herbeigerufen worden zu sein. Schon im Jahre
987 lebte am Hofe Wladimirs ein polnischer Arzt namens Johannes Smer, den
ein gelehrter Schriftsteller aus dem 10. Jahrhundert als "Archiater
et Rhetor" bezeichnet. Dieser Pole befand sich unter den zehn weisen
Männern, die Wladimir nach der "Nestorianischen" Chronik nach
aller Herren Ländern gesandt haben soll, mit dem Auftrag, ihm über die
Vorzüge der verschiedenen Religionen zu berichten, damit man sich für
die beste unter ihnen entscheiden könne. Die Quellen bestätigen
ausdrücklich, daß es schon im 12. Jahrhundert im Gefolge der
Großfürsten Ärzte gegeben hat; so soll Georgij Wladimirowitsch, als ein
in seinem Auftrag reisender Bojare vom Pferd stürzte, mit Ärzten zu
seiner Hilfe herbeigeeilt sein. Ob sich Russen darunter befanden, weiß
man nicht. Mit Namen erwähnt wird aus der damaligen Zeit nur "Peter
der Syrier", der dein Fürsten Nikolaj Dawidowitsch befreundet war.
Der Fürst hatte sich 1106 ins Kloster zurückgezogen und erwarb sich
durch sein asketisches Leben den Ruf eines Heiligen. Dein von Fasten und
Kasteiungen geschwächten Fürsten versuchte Peter umsonst die Rückehr
ins weltliche Leben anzuraten, auch stärkende Kräuter wollte der Mönch
nicht annehmen, dagegen gelang es diesem seinerseits> den Arzt zum
Eintritt ins Kloster zu bewegen.
Während der Herrschaft der Tataren wurde es unmöglich, fremde Ärzte
herbeizuziehen.
Erst gegen Ende des 15- Jahrhunderts, nachdem von den Russen das Joch der
Tataren abgeschüttelt worden war, kamen in steigendem Maß ausländische
Mediziner nach Rußland, und zwar zunächst Italiener, die sich
heimkehrenden russischen Gesandtschaften anschlossen. Die zweite Gattin
des Großfürsten lwan Wassiljewitsch war eine griechische Prinzessin; als
sie im Jahre 1490 den Besuch ihres Bruders Andrea aus Italien
(Konstantinopel war 1453 von den Türken erobert worden) erhielt, kam in
seinem Gefolge ein jüdischer Arzt namens Leo aus Venedig mit nach Moskau,
wo allerdings ein sehr trauriges Schicksal seiner wartete. Allzu
selbstsicher versprach er bei seinem Leben, den russischen Kronprinzen,
der an einer Art von Gicht an den Füßen erkrankt war, heilen zu wollen.
Aber weder seine vegetabilischen Arzneien noch seine durch heißes Wasser
erwärmten trockenen Schröpfköpfe hatten Erfolg. Der Prinz starb, und
der Großfürst nahm Leo beim Wort und ließ ihn am 22. April 1490
öffentlich hinrichten; eine Handlung, die die primitive Denkart des Hofes
kennzeichnet; der Mißerfolg des Arztes wurde wie der Betrug eines sich
als unfehlbar ausgebenden Magiers bewertet.
Der Untergang von Byzanz, der für die Geschichte Rußlands von so
großer Bedeutung gewesen ist hatte bekanntlich auch für die europäische
Geistesgeschichte weittragende Folgen, da aus der von den Türken
besetzten Stadt Gelehrte und Künstler nach Italien flüchteten, wo sie
nicht wenig zur Entwicklung der Renaissance beitrugen. Das Zurückgreifen
auf die antiken Texte und die Möglichkeit, sie durch den Druck zu
verbreiten, bewirkten einen großen Aufschwung der Wissenschaften,
darunter auch der Medizin. Obwohl Rußland im allgemeinen von dieser
Zeitströmung nicht erfaßt wurde, schlugen ihre Wellen doch bis an den
russischen Hof. Die meisten Zaren waren mehr als je bemüht, europäische
Gelehrte, und darunter auch Ärzte in ihren Dienst zu nehmen.
Aus der Regierungszeit des Großfürsten Wassilij Iwanowitsch
(1505-1533) sind die Namen der beiden Ärzte überliefert, die den
Herrscher auf seinem Totenbett betreuten. Es war ein Nikolaj Lujew, dessen
russifizierter Namen seine Herkunft nicht mehr erraten läßt, und ein
Theophil, ein preußischer Staatsangehöriger, wie aus dem Umstand
erhellt, daß der preußische Herzog Albert im Jahre 1516 - übrigens
vergeblich - vom russischen Hof seine Rückkehr verlangte. Der Großfürst
litt an einem jauchigen Geschwür in der Gegend der linken Hüfte, so daß
ihm Gehen und Aufrechtsitzen unmöglich waren. Die Ärzte versuchten
zunächst, die Entzündung durch Auflegen von Säckchen mit Weizenmehl,
Honig und gebackenen Zwiebeln zu lindern, und als sich das Geschwür
geöffnet hatte, es mit Salben zu heilen. Bald stellte sich aber Beinfraß
ein, dessen Umsichgreifen auch in die Wunde gegossener Branntwein nicht
aufzuhalten vermochte. Nikolaj Lujew antwortete schließlich auf die Frage
des Fürsten, ob es ihm denn nicht möglich sei, ihn zu heilen: "Mein
Herr und Gebieter! Als ich in meinem Lande zu Hause war und von deiner
großen Güte und Freigebigkeit hörte, da verließ ich die Heimat, sowie
auch Vater und Mutter, um zu dir zu kommen .- Bin ich aber wohl imstande,
einen Toten aufzuwecken, da ich doch nicht Gott bin?" - Wirklich
starb der Kranke kurz hiernach.
Von Theophil erfahren wir etwas später, daß er im Auftrage des Hofes zu
einem mit diesem nicht im besten Einvernehmen lebenden Fürsten gesandt
wurde, der eine Krankheit vorgeschützt hatte, um dem Befehl, nach Moskau
zu kommen, nicht gehorchen zu müssen. Offenbar sollte Theophil den
Entschuldigungsgrund des Fürsten auf seine Stichhaltigkeit hin prüfen.
Mit größter Planmäßigkeit baute der Zar lwan Wassiljewitsch, bekannt
unter dem Beinamen "der Schreckliche", die Beziehungen zum
westlichen Europa aus. Obwohl sich lwan den Ruf rücksichtsloser
Grausamkeit redlich verdiente, besaß er doch auch viele Eigenschaften
eines guten Herrschers, was sich nicht zuletzt in seiner tatkräftigen
Förderung der Medizin zeigte. An einer Versammlung kirchlicher
Würdenträger, die der Zar 1545 eigens zur Besprechung von Fragen der
Staatsverwaltung einberufen hatte, wurde unter anderem festgesetzt, daß
es dem Zaren, dem Metropoliten und den geistlichen Autoritäten zukomme,
von den Klöstern eine Abgabe zugunsten von alten oder kranken Leuten zu
erheben. Vom Jahre 1550 an wurden außerdem in verschiedenen Städten des
russischen Reiches Krankenhäuser gebaut. An lwans Hof wurde überdies die
erste Apotheke in Rußland eingerichtet. Der Zar unterhielt auch einen
ausführlichen Briefwechsel mit den Kaisern Karl V. und Rudolf II., um
Künstler, Handwerker und Gelehrte nach Rußland gewinnen zu können. Als
sehr weitsichtig erwies er sich, als er über Archangelsk
Handelsbeziehungen mit England anknüpfte.
Unter den Ärzten die im Zeichen dieser engen Fühlungnahme mit dem
Westen nach Rußland kamen, erwarb sich besonders der Italiener Arnolph
das Vertrauen des Zaren, der zwar, wohl aus Furcht, vergiftet zu werden,
von ihm so wenig wie von jemand anders Arzneien annahm, der ihm aber seine
wichtigsten Kronbeamten anvertraute, wenn sie ärztlichen Beistand nötig
hatten.
Der Arzt Eliseus Bomelius, möglicherweise ein Holländer, genoß
ebenfalls großes Vertrauen, wurde aber 1579 unter der Anschuldigung
hingerichtet, mit den polenfreundlichen Aufständischen der Stadt Nowgorod
gemeinsame Sache gemacht zu haben. Bomelius war nur eines der zahlreichen
Opfer, die lwan im Bestreben, Russlands heilige Erde zu sammeln, in den
Tod schickte.
Die gewaltsamen Methoden des Zaren hatten den Erfolg, Rußland wenigstens
zu seinen Lebzeiten den Rang einer Großmacht zu sichern, mit der die
übrigen europäischen Staaten in diplomatischen Verkehr zu treten
versuchten. Das war nicht einfach, weil das Mißtrauen Rußlands gegen den
Westen die Arbeit fremder Gesandtschaften am russischen Hofe
außerordentlich erschwerte. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, bedienten
sich manche Regierungen des Auswegs dem Zaren Ärzte zu senden, die
gleichzeitig mit diplomatischen Missionen betrat waren. Besonders die
Herrscher Englands griffen. wiederholt zu diesem Mittel. Allerdings war
auch für einen Arzt die Einreise nach Rußland nur auf Grund einer
höchsteigenen Bewilligung des Zaren möglich. Zudem konnte ein Mediziner
nur als Leibarzt am Hofe sein Brot verdienen, da das Ausüben einer Praxis
unter der Bevölkerung völlig undenkbar war. jeder zum Leibarzt
Ausersehene hatte eine Prüfung abzulegen, die allerdings meistens eine
reine Formsache war. Darauf musste sich der Anwärter dem Zaren vorstellen
und durch Eid bekräftigen, daß er ihn weder vergiften noch auf andere
ermorden werde. War der Leibarzt endgültig in Dienst genommen, so sandte
ihm der Zar Geschenke, wie sie vornehmen Besuchern überreicht wurden.
Ralph Standish (gest. 1559), der als erster englischer Arzt am Zarenhof
wirkte, erhielt drei Tage nach seinem Antrittsbesuch u. a. eine Geldsumme
von 70 Rubel, ein Reitpferd und einen geblümten, mit Zobel gefütterten
Mantel; auch der ihn begleitende Apotheker wurde beschenkt.
Eine heikle Aufgabe hatte der Leibarzt der Königin Elisabeth (1558-1603)
Robert Jacob (gest. 1588) übernommen, den seine Herrin mit einem warmen
Empfehlungsschreiben an lwan gesandt hatte: er sollte diesen dazu bringen,
sich mit einer englischen Aristokratin, Lady Mary Hastings, einer nahen
Verwandten der Königin, zu verheiraten. Obgleich Jacob beim Zaren in
hohem Ansehen stand scheiterte der Plan, weil lwan vor dem Abschluß der
Verhandlungen starb, worauf Jacob 1584 nach England zurückkehrte. Zwei
Jahre später sandte Elisabeth Jacob nochmals nach Moskau und gab ihm
einen Brief an die Zarin mit, in dem sie ihn als einen Arzt empfahl,
"der die Krankheiten des weiblichen Geschlechts kunstmäßig zu
behandeln wisse " und der "von den bei Wöchnerinnen
auftretenden Krankheiten besser unterrichtet sei als die Hebammen".
Elisabeth betonte auch, daß Jacob ihr selbst als Arzt mehrmals Hilfe
geleistet habe und daß sie hoffe, durch seine Entsendung "ihrer
geliebten Schwester einen wahren Gefallen" zu erzeigen. Aus dem Ton
dieses Briefes, der noch durch einen ähnlichen Brief an den Bruder der
Zarin, den späteren Zaren Boris Godunow, unterstützt wurde, ist zu
ersehen, welche außerordentliche Bedeutung die Königin der Mission ihres
Leibarztes in Rußland beimaß. Da Jacob kurz darauf starb, scheiterten
zunächst ihre Hoffnungen, doch gelangte bald darauf Jacobs Nachfolger
Mark Ridley (1560-1624), der von 1594 bis 1598 am Zarenhof weilte, zu
bedeutendem politischem Einfluß in Rußland.
Schon auf seiner ersten Reise nach Moskau war Jacob von einem Apotheker
und von mehreren Feldscherern begleitet gewesen. jener war wahrscheinlich
identisch mit James Frencham, von dem überliefert wird, daß er 1601
unter dem Zaren Boris Godunow zum zweiten Male nach Moskau gekommen sei.
Die erste Einrichtung einer eigentlichen Hofapotheke fällt vermutlich in
die Zeit seiner Ankunft. Von dem durch Frencham nach Moskau gebrachten
Arzneivorrat ist ein ausführliches Verzeichnis erhalten. Danach enthielt
er viele der auch heute noch in der Pharmazie üblichen Simplicia. Manche
Medikamente waren mit Zuckerguß versehen, vielleicht nicht nur, um ihre
Haltbarkeit zu erhöhen, sondern um einer Vorliebe des russischen Hofes
für Konfekt entgegenzukommen. Häufig scheint der Zimt verschrieben
worden zu sein, und zwar sowohl als alkoholische Tinktur wie als
ätherisches Öl. Es fehlten auch nicht die damals überall üblichen,
mehr auf Aberglauben denn auf Erfahrung gegründeten Heilmittel wie Terra
sigillata, Lapislazuli, Mandragora usw.
Außerordentlich große Anstrengungen, die Errungenschaften der westlichen
Kultur auch für Rußland auszuwerten, unternahm der Zar Boris Godunow
(1598-1605), Er sandte 18 junge russische Edelleute ins .Ausland, um
fremde Sprachen zu lernen und sich in verschiedenen Wissenschaften
auszubilden; fünf davon begaben sich nach der Freien Reichsstadt Lübeck,
die damals in besonders enger Beziehung mit dem Zarenhof stand. Im Jahre
1600 sandte der Zar Reinhold Beckmann, einen sprachenkundigen Übersetzer,
nach Lübeck mit dem Auftrag, tüchtige und geschickte Ärzte ausfindig zu
machen und sie zur Übersiedlung nach Moskau zu bewegen. Beckmanns Mission
war von Erfolg gekrönt. Es gelang ihm, die Ärzte Caspar Fiedler (geb.
1555), der damals in Riga praktizierte, David Vasmer und Heinrich
Schröder für den Dienst beim Zaren zu gewinnen. Fiedler war 45 Jahre alt
und hatte bereits als Leibarzt des Deutschen Kaisers, der Königin von
Frankreich und des Herzogs von Preußen seine ärztliche und höfische
Gewandtheit bewiesen. Der Zar erließ für ihn einen Sicherheitsbrief,
wonach Fiedler ohne Zwang in Rußland bleiben oder in sein Vaterland
zurückkehren durfte und außerdem Anspruch auf eine angemessene Besoldung
hatte. Von der Grenze bis Pleskau sollte der Arzt kostenlos mit Fuhrleuten
reisen, von dort aber mit dem eigenen Vorspann der Krone abgeholt werden.
Fiedler stand in Moskau offenbar in hohen Ehren und war Kirchenpatron der
dortigen Lutherischen Kirche. Sein Bruder Constantin Fiedler in
Königsberg verfaßte übrigens eine Lobrede auf Boris Godunow, die ins
Russische übersetzt wurde. 1607, in der Zeit der Wirren, wurde Fiedler
nach Sibirien verbannt.
David Vasmer hatte sich vor der Annahme der Berufung an den russischen
Hof ein festes Dienstverhältnis für sieben Jahre ausbedungenen, ferner
freie Religionsausübung und die Erlaubnis, ausländische Bediente zu
halten. Über Heinrich Schröder sind keine besonderen Angaben auf uns
gekommen.
Indessen befanden sich damals nicht nur deutsche Ärzte im Dienst des
Zaren, sondern solche aus den verschiedensten Ländern, so Christophorus
Rietlenger, ein Ungar, über den ein Zeitgenosse schreibt: "Ein
wohlversuchter Mann und ein guter Arzt, auch vieler Sprachen kundig."
Aus Livland stammte Johannes Hilke und aus England Timothy Willis, der
allerdings sofort nach seiner Ankunft in Moskau in eine außerordentlich
peinliche Lage geriet. Königin Elisabeth hatte ihn 1599 dem Zaren nicht
nur als vortrefflichen Leibarzt empfohlen, sondern ihm gleichzeitig einen
diplomatischen Auftrag erteilt. Er sollte dem Zaren Briefe überreichen,
aus denen hervorging, daß England sich in den damaligen Krieg zwischen
Polen und Schweden nicht eingemischt habe, wie es den Anschein hatte, da
englische Schiffe ohne Einwilligung der Königin den Polen Waren
zugeführt hatten. Die Russen begnügten sich aber mit der brieflichen
Erklärung nicht, sondern stellten mit Willis ein strenges Verhör an, auf
das er offenbar keineswegs gefaßt war, weshalb er sich weigerte, mehr zu
sagen, als in den Briefen stünde. Da unglücklicherweise sein Gepäck
unterwegs liegengeblieben war, konnte Willis nicht einmal, wie es von ihm
verlangt wurde, beweisen, daß er wirklich Arzt sei. Unter nichtigen
Vorwänden sandten ihn deshalb die Russen nach London zurück. Der ganze
Vorfall ist kennzeichnend für das Mißtrauen, das sogar noch in dieser
Zeit Rußland dem Westen entgegenbrachte.
Aus der Regierungszeit von Boris Godunow ist auch ein berühmtes
"Heilbuch" (Letschebnik) erhalten, das früher als ein
Niederschlag der russischen Volksmedizin galt, in Wahrheit aber die
Übersetzung eines polnischen Werkes ist, das 1423 von italienischen
Ärzten auf Grund italienischer Vorlagen in Krakau zusammengestellt worden
war. 1588 befahl der Woiwode von Separchow, Fomas Afanasjewitsch Butturlin,
es ins Russische zu übertragen. Das Manuskript umfaßt 1561 zweispaltige
Folioblätter und ist mit Zeichnungen von Tieren, Pflanzen und Fossilien
illustriert, die einfach aus der polnischen Vorlage herausgeschnitten und
eingeklebt worden sind. Der Inhalt kann eine Vorstellung davon vermitteln,
was man wohl als Wissensschatz eines damaligen russischen Arztes ansehen
darf. Er bringt Krankheitsbeschreibungen, mit Belegen aus medizinischen
und philosophischen Autoren, ferner ist die Rede von der Bereitung
alkoholischer Pflanzentinkturen, von verschiedenen Heilpflanzen, von
Mineralien und Tieren, insofern sie zu medizinischen Zwecken verwendet
werden können, von Geburtshilfe und Kinderpflege, von der Harnschau, von
den diagnostischen Kennzeichen, von der Pest, von der Barbier- und
Apothekerkunst, von den für das Einsammeln der Heilpflanzen und ihre
Anwendung günstigen Zeiten usw.
Auch aus früheren Zeiten sind in Rußland Kräuterbücher und
dürftige hygienische Abhandlungen bekannt, es ist auch erwiesen, daß
Schriften ärztlichen Inhalts vorhanden waren, die verlorengegangen sind.
Aber dieses Schrifttum ist derart karg, daß man in ihm kaum die Grundlage
zu einer medizinischen Wissenschaft erblicken kann. Es war vielmehr
ausschließlich der von den Zaren, und besonders von den Romanow,
gepflegte Kontakt mit der westlichen Kultur, der in Rußland zur
Entwicklung einer medizinischen Wissenschaft führte.
Es ist versucht worden, statistisch zu erfassen, wieviel Ärzte in den
russischen Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts genannt werden, und zwar
von Alexander Brückner (Geschichte Rußlands bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts, Gotha 1896). Wenn auch das Ergebnis mehr oder weniger
unvollständig sein muß, so weist es doch auf zwei bezeichnende Tatsachen
hin: nämlich erstens auf das starke Anwachsen der Zahl der Ärzte in
diesem Zeitraum und besonders in der Epoche Peters des Großen. Nach
dieser Statistik gab es von 1690 bis 1730 125 Mediziner in Rußland,
während die Quellen aus der ganzen ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
nur deren 22 erwähnen. Mit diesen Angaben, mögen sie auch nur
angenähert richtig sein, ist aber schon eine zweite Tatsache
ausgedrückt: Gemessen an der Größe des russischen Reiches war auch noch
in der Zeit der ersten Romanow die Zahl der Ärzte verschwindend gering.
Diese Feststellung wird durch zeitgenössische Aussagen bestätigt. So
beschwerte sich der General Patrick Gordon (1635-1699), von Geburt ein
Schotte und ein enger Freund Peters des Großen, 1685 darüber, daß in
Kiew kein einziger Arzt aufzutreiben, noch Arzneien zu erhalten seien. Und
als 1711 ein Begleiter des dänischen Diplomaten Just Juel (1664-1715) in
Nowgorod ein Bein brach, befand sich in dieser Stadt kein Feldscher noch
ein Chirurg.
Die wenigen Ärzte ausländischer Herkunft befaßten sich nach wie vor
hauptsächlich mit der Gesundheit des Zaren und anderer hoher
Würdenträger. Zu dieser aus früheren Jahrhunderten Überkommenen
Aufgabe gesellten sich im Laufe des 17. Jahrhunderts allerdings mehr und
mehr militärmedizinische Obliegenheiten. Sogar während der großen
Epidemien scheinen die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen vor allem den
Schutz des Zaren, seiner Familie und seiner unmittelbaren Umgebung
bezweckt zu haben.
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Die erste Epidemie fiel noch in die Zeit der Smuta, der Wirren, die bis
1613 dauerte. Damals bestand keine Staatsgewalt, die irgendwelche
Vorkehrungen hätte treffen können. Statt dessen bewährte sich das in
der Nähe von Moskau gegründete Troitzkijsche Kloster zum heiligen
Sergius als ein Zufluchtsort für die von der Seuche oder von den
kriegerischen Ereignissen Bedrängten, obwohl es sich selbst gegen eine
polnische Belagerungsarmee zu verteidigen hatte. Wer sich an das Kloster
wandte, erhielt Unterkunft in einem der Krankenhäuser, die eigens für
die von der Seuche Erfaßten gebaut worden waren, Almosen oder Geld für
Heilmittel. Über die Symptome der Epidemie erfahren wir nichts, außer
daß ihr unvorstellbar viele Menschen zum Opfer gefallen sind, wurden doch
allein in diesem Kloster einmal an einem einzigen Tage 860 Tote begraben.
Eine furchtbare Pestepidemie wütete von 1654 an in Rußland, und da
zeigte sich, daß die damalige Gesundheitspolizei vor allem das Heil des
Zaren und der Seinen im Auge hatte. Drastisch schildert Adam Olearius (um
1603-1671) in der Beschreibung seiner Reise nach Moskau und Persien den
Verlauf der Krankheit. "Es entstand eine so giftige Luft und große
Pest in Moskau, daß die Leute, welche ihrer Meinung nach gesund aus dem
Hause gehen, auf der Gasse niederfallen und sterben."
Die erste Maßnahme, die der mit den Regierungsgeschäften betraute
Patriarch Nikon ergriff, war, daß er die Zarin Marja lljnischna mit ihren
Kindern aus Moskau entfernte. Auf Wunsch des Zaren Alexej Michajlowitsch,
der damals im Krieg gegen die Polen stand, verließ auch der Patriarch
selbst bald darauf die Hauptstadt. Möglicherweise wurde ihm, der wegen
seiner kirchlichen Reformen viele Gegner hatte, diese Flucht als ein
Zeichen mangelnden Gottvertrauens ausgelegt, denn in einem am 6. August
1656 erlassenen Hirtenbrief hebt er ausdrücklich hervor, daß keine
Sünde darin zu finden sei, vor der Seuche an einen sicheren Ort zu
entweichen.
Um den Zaren und sein Heer vor der Pest zu schützen, wurden auf der
Straße von Moskau, dem Hauptherd der Epidemie, bis nach Smolensk - dort
befand sich der Zar damals - Schlagbäume errichtet; dasselbe geschah auf
anderen von Moskau wegführenden Straßen. Wer den Zaren besuchen wollte
oder überhaupt in die Gegend reiste, wo er weilte, durfte den Weg nicht
über Moskau nehmen. In dieser Stadt selbst wurden an den Gebäuden des
Zaren die Türen und Fenster zugemauert, damit der Pesthauch nicht in sie
hineindringen könne. Häuser, in denen Kranke wohnten, wurden durch
Wachen von der Umwelt abgesperrt, auch Dörfer in der Nähe Moskaus, die
von der Epidemie heimgesucht waren, wurden durch Wachen isoliert, die
ständig Feuer unterhalten mußten, um die Luft von den todbringenden
Keimen zu reinigen. Als die Zarin auf einer Straße reisen sollte, auf der
kurz vorher die Leiche einer an der Pest Verstorbenen transportiert worden
war, wurde die betreffende Wegstrecke mit Holz belegt, dieses angezündet,
Asche und Kohle mit der Erde vermischt und alles zusammen fortgeschafft.
Aus großer Entfernung wurde hierauf neue Erde hergebracht und
aufgeschüttet. Alle diese Maßnahmen liefen im großen ganzen darauf
hinaus, die an der Seuche Erkrankten streng von den noch Gesunden
abzusondern. In Moskau wurden übrigens auch die Hunde getötet, da man
bei der großen Zahl unbestatteter, auf der Straße liegender Leichen
nicht verhüten konnte, daß sie jenen zum Fraße dienten.
Als die Seuche im Abflauen begriffen war, ordnete der Zar an, daß in
allen Städten und Orten die Zahl der ihr zum Opfer Gefallenen
aufgezeichnet würde. Leider wurde aber diese Statistik sehr ungleich
ausgeführt; nur zum Teil wurden auch die Zahlen der Überlebenden
angegeben, so daß sich die prozentuale Sterblichkeitsziffer in vielen
Fällen nicht errechnen läßt. Wo dies möglich ist, zeigen sich
erschreckende Ansätze: 70, 80 ja 90% der Bevölkerung wurden mancherorts
dahingerafft, zuweilen sogar alle Einwohner.
Der Versuch zu einer solchen Erhebung zeigt immerhin, daß der
russische Staat im 17. Jahrhundert allmählich ein geordnetes staatliches
Gesundheitswesen aufzubauen begann. Fortschritte machten sich auch in der
Ordnung des Ärzte- und Apothekerstandes bemerkbar. Unter dem Zaren
Michajl Fjodorowitsch wurde um 1620 der "Aptekerskoj Prikas",
die Apothekerbehörde, gegründet, die einer obersten Verwaltungsstelle
für alle das Heilwesen betreffenden Fragen gleichkam. Die Behörde setzte
sich aus einer Anzahl von Hofärzten zusammen, die sich täglich
versammelten. Sie war einem jeweils vom Zaren eingesetzten Bojaren
untergeordnet und wurde von einem Stab von Kanzlisten unterstützt. Ihr
Aufgabenkreis umfaßte die Aufsicht über alle Ärzte und über die in der
Hauptstadt wohnenden Apotheker, die Versorgung der Apotheke des Zaren mit
einem genügenden Vorrat von Arzneien, die Anstellung von Feldärzten, die
Einrichtung von Feldapotheken, die Honorierung aller Medizinalbeamten und
die Jurisdiktion über die Heilpersonen. Ausländische Ärzte wurden von
dieser Behörde geprüft und je nach dem Ergebnis für bestimmte Dienste
ausersehen, ja sie erteilte ihnen sogar in einzelnen Fällen unmittelbare
Befehle und Direktiven.
Auf diese Behörde gehen die geschilderten Maßnahmen während der
Epidemie von 1654 zurück; als 1665 in London die Pest ausgebrochen war,
untersagte sie alle Handelsverbindungen mit England. Eine fürsorgliche
Gesinnung dokumentiert der 1637 erlassene Befehl, zum Tode verurteilte
Schwangere erst sechs Wochen nach der Geburt des Kindes hinzurichten. Aus
dem Jahre 1640 ist eine Verfügung bekannt, die die Ausbreitung einer
damals herrschenden Viehseuche einzuschränken trachtete. Verschiedentlich
wurde auch angeordnet, daß Kriegsverwundete unentgeltlich gepflegt und
aus der Apotheke des Zaren mit Heilmitteln versorgt werden sollten.
Wiederholt wurden Chirurgen von Moskau abgeordnet, um verwundete Bojaren
zu behandeln. Auch bei unvorhergesehenen Katastrophen, z. B. bei
Feuersbrünsten, wurden Verletzte oft der besonderen Berücksichtigung
durch die Apothekerbehörde teilhaftig.
Aus Abrechnungen, die noch erhalten sind, ergibt sich, daß sich gegen
Ende des 17. Jahrhunderts das Budget der Apothekerbehörde auf gegen 10000
Rubel im Jahr belief. Die Gründung der
Apothekerbehörde war nur eine der Maßnahmen, die unter dem ersten
Romanow ergriffen wurden, um die während der Smuta erschütterte
Staatsautorität auf allen Gebieten zu festigen. Besonders waren die Zaren
bestrebt, eine starke Armee zu bilden, um eine Wiederholung des
Einmarsches feindlicher polnischer oder schwedischer Heere, wie er
während der Wirren erfolgt war, unmöglich zu machen. Im Heereswesen
wurde das Augenmerk auch auf die Regelung der ärztlichen Tätigkeit im
Felde gerichtet. Schon aus dem Ausgabenverzeichnis der obern
Staatsbehörde aus dem Jahre 1615 ergibt sich, daß sich offiziell ein
Chirurg bei der Armee befand, der, ebenso wie die ausländischen
Offiziere, jährlich von der Regierung ein Gehalt bezog. 1631 wurde durch
Oberst Heinrich von Damm auf Geheiß des Zaren in Deutschland ein Regiment
angeworben; ausdrücklich wird im Verzeichnis dieser Truppe ein Chirurg
erwähnt. Die Fürsorge für die Verwundeten war ursprünglich Sache der
Truppenkommandanten gewesen, denen zu diesem Zwecke von der Regierung eine
bestimmte Geldsumme zugeteilt worden war. Später hatte jedes Regiment
seine eigenen Feldärzte, die der Apothekerbehörde unterstanden.
Außerdem erhielt es 200 Rubel zur Einrichtung einer Feldapotheke; diese
Summe wurde mit der Zeit natürlich entsprechend den wachsenden
Bedürfnissen erhöht.
Ein planmäßiges Vorgehen des Staates wird auch in Erlassen sichtbar, die
das Apothekerwesen betrafen und dafür sorgen sollten, daß in reichlichem
Maße in- und ausländische Heilmittel zur Verfügung stünden. Unter
Alexej Michajlowitsch gab es in Moskau zwei Apotheken des Zaren, die
"alte" im Kreml und die "neue" in der Stadt, jene war
für den Zaren und seine Familie bestimmt und gab nur ausnahmsweise an
Privatpersonen Heilmittel ab; diese dagegen stand dem Publikum offen und
wurde von mehreren Apothekern geleitet, die zeitweise ausdrücklich den
Befehl hatten, in der Apotheke selbst zu wohnen und von morgens zwei Uhr
bis abends abwechselnd den Dienst zu versehen; im Falle einer Erkrankung
in der Zarenfamilie durfte der Dienst überhaupt nicht unterbrochen
werden. Die Apotheker empfingen vom Staate ihr Gehalt, die kaufmännische
Abrechnung ihres Ein- und Verkaufs dagegen wurde von eigens hierzu
bestellten Beamten besorgt.
Die Apotheken des Zaren galten als die prunkvollsten in ganz Europa,
die Flaschen bestanden nicht aus Glas, sondern aus geschliffenem Kristall,
und die Deckel aus vergoldetem Silber. Die Heilmittel kamen größtenteils
auf dem Seeweg aus England und Holland nach Archangelsk und auf der Dwina
bis Wologda, von wo sie zu Land nach Moskau befördert wurden. Unter Peter
dem Großen wurden verschiedene Male Abgeordnete ins Ausland geschickt, um
Apothekerwaren für Rußland zu beschaffen, so 1688 Conrad Filippowitsch
Nordermann, 1689 Andreas von Rosenbusch, der Waren im Wert von 1800 Rubel
über Riga nach Moskau schickte, und 1691 Franz Schlaeter.
Zur Belieferung der Apotheken mit Heilkräutern wurden zur Zeit von Alexej
Michajiowitsch in Moskau drei besondere Kräutergärten angelegt, auch
wurde eine Menge frischer Kräuter aus einem benachbarten Dorfe bezogen.
Der Zar befahl aber außerdem den Wojwoden in verschiedenen Provinzen,
einheimische Arzneimittel sammeln zu lassen, so Süßholz im Wolgagebiet
und in Astrachan, Salpeter in der Ukraine, Moschus in Sibirien und
Bibergeil in der Ukraine und in Sibirien. Chinesischer Rhabarber wurde
durch Kamelkarawanen nach Rußland gebracht, dieser Handel erwies sich als
so einträglich, daß ihn der Staat monopolisierte.
Der Geist einer fürsorgenden, oft sich despotisch in allzu viele Dinge
einmischenden Staatslenkung machte sich im 17. Jahrhundert in den meisten
europäischen Staaten geltend, und man kann in der Erstarkung des
Zarentums unter den ersten Romanow eine Parallele zu dieser
allgemein-europäischen Entwicklung sehen. Besonders deutlich offenbarte
sich diese patriarchalisch wohlmeinende Fürsorge bei der Gründung eines
Krankenhauses und eines Asyls für Hilfsbedürftige in Moskau im Jahre
1682. Die alte christliche Tradition der Krankenpflege wurde nie
aufgegeben, und im 17. Jahrhundert wurde in Moskau sogar von einem
Privatmann, Fjodor Michajlowitsch Rtischew (gest. 1673), ein Krankenhaus
mit zwei Zimmern eingerichtet, die 13 bis 15 arme Kranke beherbergen
konnten. Rtischew kümmerte sich auch um das Los der Kriegsgefangenen und
genoß den Ruf eines großen Wohltäters. Das staatliche, von der
Apothekerbehörde auf einen ausdrücklichen Befehl des Zaren Fjodor
Alexejewitsch (1676-1682) geplante Spital wurde in dessen Todesjahr im
alten Zeughaus bei der Nikitzkijschen Pforte eingerichtet und eine
gleichzeitig damit in Angriff genommene Versorgungsanstalt im
Znamenskijschen Kloster. Das Krankenhaus sollte bedürftige Kranke
aufnehmen und die Anstalt Unheilbaren und Gebrechlichen, die von der
Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen lebten, Zuflucht bieten. Die
Versorgungsanstalt, so hoffte man, werde das Bettelwesen zurückdämmen
helfen, darüber hinaus sah man sogar vor, Leute, die sich nur aus
Faulheit dem Bettel ergaben, in künftig zu errichtende Arbeitshäuser zu
stecken.
Die Oberaufsicht über das Krankenhaus führte ein Edelmann; ein Arzt,
drei bis vier Chirurgen und mehrere Lehrlinge, ein Rechnungsbeamter und
verschiedene Dienstboten bildeten das Personal. Eine kleine Apotheke im
Spital selbst sollte die dringendsten Bedürfnisse nach Heilmitteln
decken. Der Unterhalt der beiden Gründungen wurde aus dem Ertrag von
Gütern bestritten, die ehemals dem Erzbischof von Archangelsk gehört
hatten; auch flossen diesem guten Zwecke die Almosen zu, die in den
Kirchen Moskaus gesammelt wurden.
Bemerkenswert ist, daß vorgesehen war, in dem neuen Spital jungen Ärzten
Gelegenheit zur beruflichen Weiterbildung zu bieten, und zwar unter den
Augen der Apothekerbehörde, die auf diese Weise sich ein Bild von den
Fähigkeiten der verschiedenen Anwärter auf medizinische Ämter
verschaffen wollte. Schon vorher war die berufliche Förderung des
Ärzte-Nachwuchses planmäßig begonnen worden; auch dazu hatten die
Bedürfnisse der Feldmedizin den Anlaß gegeben. 1654, also zur Zeit der
großen Epidemie, war beim "Aptekerskoj Prikas" eine
Medizinschule eröffnet worden. Das gesamte Personal des Amtes befand sich
damals mit dem Zaren an der Front bei Smolensk und Wjasma; dorthin wurden
30 junge Leute aus dem Strelitzenstande beordert, um in der Chirurgie
unterwiesen zu werden.
Später war der Unterricht umfassender und begann mit
Heilkräuterkunde, Pharmakologie und praktischer Pharmazie sowie mit
Skelettanatomie; nach zwei Jahren folgten pathologisch-therapeutische
Übungen, Symptomatologie und ein ambulatorisches Praktikum, im vierten
Jahre wurden die Schüler diplomierten Ärzten zugeteilt, die sie in die
pathologische Anatomie und in die ärztliche Technik einführten. 1658
empfingen 13 Anwärter das Abgangszeugnis dieser Medizinschule, die bis
zum letzten Viertel des 17. Jahrhunderts bestand. Sie war die Vorläuferin
der Medizinschulen, die später Peter der Große einrichten sollte, der
sich auch in dieser Hinsicht als Erbe und Vollstrecker der ihm unmittelbar
vorangehenden Epoche erwies.
Wie schon im 16. Jahrhundert zeigte sich aber auch im 17. und im 18.
die Fürsorge der Zaren für das Heilwesen besonders in der Berufung
ausländischer Ärzte nach Rußland. Die europäischen Fürsten erwiesen
sich den Zaren oft gefällig, indem sie ihnen hervorragende Mediziner
zusandten; so kam 1638 Reinhard Pauw auf Empfehlung des Prinzen Friedrich
Heinrich von Nassau-Oranien (1625 bis 1647) nach Moskau, allerdings hatte
er das Mißgeschick, verschiedene Bojaren, die seiner Pflege anvertraut
wurden, nicht heilen zu können und mußte deshalb nach vier Jahren
Rußland wieder verlassen.
Jakob 1. von England (1603-1625) sandte 1621 dem Zaren auf dessen Bitte
seinen Hofarzt Arthur Dee (1579-1651), der einer der hervorragendsten
Ärzte seiner Zeit war. Dee war der Sohn des berühmten Mathematikers und
Astrologen John Dee (1527 bis 1608), der die besondere Gunst der Königin
Elisabeth genossen und sie oft auf Grund seiner Sterndeutung beraten
hatte. Der Sohn hatte ihn auf seinen ausgedehnten Reisen begleitet und
große Sprachenkenntnisse erworben; nach einem ihm 1619 in Basel
ausgestellten Belobigungsschreiben soll er außer englisch deutsch,
französisch, ungarisch und polnisch gesprochen haben. Nach Rußland begab
sich Dee im Gefolge des russischen Gesandten, er erwarb sich bald die
volle Gunst des Zaren. 1634 kehrte er mit dessen Erlaubnis nach England
zurück und diente dort Karl 1. (1625 bis 1649) als Leibarzt. Nach dessen
Enthauptung folgte er den mystischen Neigungen, die er von seinem Vater
geerbt hatte, und opferte sein ganzes Vermögen alchemistischen Versuchen.
Ein anderer englischer Arzt, Samuel Collins (1619-1670), kam
wahrscheinlich zusammen mit dem Kommissar des Zaren, Gebdon, nach Moskau,
der 1658 mit dem Auftrag nach Holland und nach anderen Ländern geschickt
worden war, Ärzte, Apotheker, Offiziere und Künstler anzuwerben und auch
Gewehre und andere Waffen einzuhandeln. Collins hatte in Oxford und in
Cambridge studiert und war bis 1669 Leibarzt des Zaren. Er wurde bekannt
durch eine Geschichte Rußlands mit dem Titel "The Present State of
Russia, in a Letter to a Friend at London" (London 1671).
Sicher durch Gebdons Vermittlung gelangte 1665 der Engländer Thomas
Wilson an den russischen Hof; da damals in London die Pest ausgebrochen
war, mußte er sich vom Juni bis zum Oktober außerhalb Moskaus aufhalten.
Er blieb nur bis 1667 in Rußland.
Aus Holland stammten außer dem genannten Reinhard Pauw auch die Ärzte
Valentin Byls, Hiob Polidamus und Quirinus Bremburg. Byls stand von
1615-1633 im Dienste des Zaren. Dieser schätzte den Arzt so hoch, daß er
dessen Sohn auf seine Kosten in Holland Medizin studieren ließ. Polidamus
reiste im Gefolge des holländischen Gesandten und ausgerüstet mit einem
Sicherheitsbrief des Zaren nach Moskau. Von Bremburgs Schicksal wird noch
die Rede sein. Deutscher Herkunft waren unter anderm Wendelin Sybelist
(1597-1677), Nachfolger von Arthur Dee als Leibarzt des Zaren, und Andreas
Engelhardt (gest. 1682). Sybelist hatte in Halle studiert und war dem
Zaren vom Herzog von Holstein empfohlen worden, er schloß sich einer
holsteinischen Gesandtschaft an, die damals nach Rußland und Persien zog.
Auf dem Schiffe von Lübeck nach Riga reiste er mit dem berühmten
Reiseschriftsteller Olearius 1634 traf er in Moskau ein und wurde dort dem
Zaren Michajl Fjodorowitsch persönlich vorgestellt. Er blieb bis 1646 in
Rußland, und verkehrte nachher noch brieflich mit dem Zaren, es beweist
das große Vertrauen, das er bei diesem genoß, daß er verschiedene
diplomatische Aufträge für ihn auszuführen hatte. Engelhardt stammte
aus Lübeck, einer Stadt, die von je enge Beziehungen zum Zarenhof
gepflogen hatte. Er hatte in Leiden, in Franeker (niederländisches
Friesland), wo es von 1585 bis 1811 eine Universität gab, und in
Königsberg studiert, war als Nachfolger seines Vaters Stadtarzt in
Aschersleben gewesen und hatte sich in Lübeck den Ruf eines
ausgezeichneten Arztes erworben. Nach Rußland wurde er durch die
Vermittlung eines Kaufmanns berufen und wirkte dort zunächst zehn Jahre
und später, auf eine besondere Einladung des Zaren hin, noch einmal von
1676 an bis zu seinem Tode. Das Ansehen Engelhardts war nicht zuletzt dem
Umstand zuzuschreiben, daß er im Jahre 1664 in einer Denkschrift an den
Zaren das Erscheinen eines Kometen deutete und eine Pestepidemie auf das
folgende Jahr voraussagte, die allerdings im Auslande auftreten werde, was
tatsächlich in Erfüllung ging, da London 1665 von der Pest heimgesucht
wurde. Ebenso trafen einige politische Prophezeiungen Engelhardts ein.
Auch aus Rußland unmittelbar benachbarten Ländern zogen Ärzte nach
Moskau: so Johannes Belau aus Dorpat und Johannes Coster von Rosenburg
(1632-1685) aus Schweden. Belau war in Dorpat Professor der Medizin
gewesen und von Sybelist dem Zaren als Leibarzt empfohlen worden. Er
weilte 1643 bis 1652 in Moskau, späteren Einladungen, wieder
zurückzukehren, folgte er nicht, erteilte aber dem Zaren in Briefen
Ratschläge zur Anschaffung teurer Medizinen, heilkräftiger Edelsteine
und mehrerer Stücke "Einhorn". Coster war über fünfzig Jahre
alt, als er nach Rußland kam war aus Lübeck gebürtig, hatte in
Königsberg promoviert und war 1649 Stadtarzt in Wismar geworden; später
hatte er dem schwedischen König Karl Gustav (1654-166o) als Leibarzt
gedient und verdankte ihm die Erhebung in den Adelsstand. Coster hat
verschiedene medizinische Abhandlungen verfaßt.
Die bedeutendste Erscheinung unter den fremden Ärzten war aber Laurentius Blumentrost (1619-1705). Er
und seine drei Söhne, Laurentius Christian, Johannes Deodat (1676 bis
1756) und Laurentius (der jüngere, 1697 bis 1755) beeinflußten fast ein
Jahrhundert lang das russische Heilwesen maßgebend. Laurentius
Blumentrost war einer pfarrherrlichen Familie in Mühlhausen (Thüringen)
entsprossen, hatte in Helmstedt, in Jena und in Leipzig studiert und
nachher als Stadtarzt in Mühlhausen und als Leibarzt verschiedener
Fürstlichkeiten gewirkt. Dem Zaren Alexej Michajlowitsch wurde er von
einem Generallieutenant empfohlen. Am 24. Mai 1668 kam Blumentrost in
Moskau an und wurde dem Zaren kurz darauf vorgestellt. Blumentrost ragte
besonders als Pharmakologe und als Internist hervor, wovon auch sein Werk
"Pharmacopoea domestica er postalis" (1668) zeugt, das 1716 von
Johann Georg Hoyer (1663-1737) unter dem Titel "Haus- und
Reise-Apotheke" neu herausgegeben worden ist. Im Vorwort zu dieser
Übersetzung finden sich manche biographische Angaben über Blumentrost.
Als praktischer Arzt bewährte er sich so ausgezeichnet, daß, wie Wilhelm
Michael von Richter (1767-1822) 1815 in seiner "Geschichte der
Medicin in Rußland" berichtet, noch zu dessen Zeit in gewissen
russischen Familien handschriftliche Rezepte Blumentrosts wie kostbare
Familienschätze gehütet wurden. Wie groß Blumentrosts Ansehen bei Hofe
war, beweist, daß sich die Fürstin Sophie während des
Strelitzenaufstandes 1682 für ihn einsetzte und damit seine Ermordung
verhinderte.
Die fremden Ärzte genossen unter den ersten Romanow große Achtung.
Mehrere von ihnen standen, wie wir gesehen haben, in persönlichem
Briefwechsel mit dem Zaren selbst.
Die Gehälter, die sie empfingen, waren für jene Zeit sehr hoch, so
bezog Valentin Byls jährlich 860 Arthur Dee gar 1114 Rubel. Dazu wurden
sie bei besonderen Gelegenheiten, wie z. B. bei der Anstellung und
wiederum bei der Entlassung oder Beurlaubung, mit fürstlichen Geschenken
überhäuft. Für ihre Reise nach Rußland wurden ihnen besondere
Sicherheitsbriefe ausgestellt, und gelegentlich wurde ihnen ein
Dolmetscher entgegengesandt. Auf der anderen Seite aber dauerte auch in
dieser Zeit das alte Mißtrauen gegen die Vertreter westlicher Kultur an
und machte sich sofort geltend, wenn diese in irgendeiner Weise versagten,
es sei verwiesen auf das Beispiel von Reinhard Pauw, der wegen seiner
Mißerfolge Rußland verlassen mußte. Schlimm erging es beinahe Quirinus
Bremburg, einem gebürtigen Holländer, der 1626 in die Dienste des Zaren
aufgenommen wurde. Bremburg rührte in scharlatanesker Weise die
Werbetrommel für sich, griff die "Doktoren" an und pries die
geheimen Arzneimittel, in deren Besitz er sich befinde. Er selbst sei, wie
er in einer Bittschrift dem Zaren auseinandersetzte, in einer Person
Apotheker, Chirurg und Arzt. In Moskau beging Bremburg den Fehler, ein
Skelett am Fenster seiner Wohnung weithin sichtbar aufzustellen, was das
Empfinden der
orthodoxen Russen so verletzte, daß der Zar den Arzt des Landes
verweisen mußte, um Aufläufe zu verhindern.
Durch besonderes Mißtrauen zeichnete sich der Zar Fjodor Alexejewitsch
aus. Kränklich, wie er war, bedurfte er der Ärzte und Apotheker sehr
häufig; da er aber stets fürchtete, vergiftet zu werden, ergriff er
strengste Schutzmaßnahmen, ließ seine gesamte Umgebung schwören, ihn
nicht zu töten, und zwang die Ärzte, von allen Heilmitteln, die sie ihm
verabreichten, zuerst selber zu genießen. Rezepte mußten neben dem
lateinischen Wortlaut immer dessen russische Übersetzung enthalten.
Dieses gesteigerte Mißtrauen mag dazu beigetragen haben, daß nach seinem
Tod gemunkelt wurde, er sei vergiftet worden, und sich die Wut der
Strelitzen auch gegen die Ärzte richtete. Blumentrost wurde bei dieser
Gelegenheit, wie erwähnt, gerettet, den deutschen Arzt Johannes Gutmensch
dagegen erschlugen die Aufrührer.
Der Ausbau der Staatsmacht und die kulturelle Annäherung an den
Westen, die das Rußland des 17. Jahrhunderts kennzeichneten, gipfelten in
der Regierungszeit Peters des Großen, und wie auf anderen
wissenschaftlichen Gebieten wurde auch auf dem der Medizin von diesem
Monarchen die Grundlage zu einer methodischen Weiterentwicklung gelegt.
Peter verdankte seine Vorliebe für die westliche Kultur großenteils
seiner Mutter, Natalja Kirillowna, und für deren aufgeschlossene
Denkweise war es bezeichnend, daß sie als erste russische Frau nicht
davor zurückschreckte, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Vorher
hatten sich die Prinzessinnen eigene "Heilweiber" gehalten.
Peter selbst betätigte sich, wie erwähnt, in den verschiedensten
Techniken und Handwerken, und es braucht deshalb nicht zu verwundern, daß
er selber mit Vorliebe Zähne zog und auch stets ein Chirurgenbesteck mit
sich führte, um kleine Eingriffe, wie Aderlasse oder gar Starstiche,
vorzunehmen. War jemand in der Umgebung des Zaren erkrankt, so mußte er
ständig in Furcht schweben, die sprichwörtlich einfache Kutsche Peters
vorfahren zu sehen und dessen gewaltsame Heilungsversuche erdulden zu
müssen.
Als Peter 1697 seine Bildungsreise nach dem westlichen Europa
unternahm, bediente er sich für seine Briefe aus dem Auslande eines
Petschafts mit der Inschrift: "Im Stande eines Lernenden bin ich und
Lehrende suche ich mir." Nicht nur ließ sich Peter im
Artilleriewesen und im Schiffsbau usw. ausbilden, sondern er hörte auch
Vorlesungen beim Professor der Anatomie Frederik Ruysch (1638 bis 1731) in
Amsterdam, war bei Operationen zugegen und besichtigte das anatomische
Kabinett. Dort küßte er die ausgezeichnet präparierte Leiche eines
Kindes, das im Tode noch zu lächeln schien. In Leiden besuchte er die
anatomische Sammlung von Hermann Boerhaave (1668-1738), und als er
bemerkte, daß einige seiner russischen Begleiter nur mit Widerwillen die
Leichen zu betrachten vermochten, zwang er sie, was für seine despotische
Art bezeichnend ist, mit den Zähnen die Muskeln eines Leichnams zu
zerreißen. Es zeigt sich in diesem Befehl die Vehemenz, mit welcher der
Zar den Vorurteilen der Russen gegen die westliche Wissenschaft zu Leibe
ging. Von Ruysch ließ er später eine Sammlung anatomischer Präparate
nach Rußland senden, von denen unterwegs ein großer Teil zugrunde ging,
da die sie transportierenden Kosaken den konservierenden Spiritus
austranken.
Peter reiste aber nicht nur selber in den Westen, sondern zwang
zahlreiche Edelleute, sein Beispiel nachzuahmen; zum großen Teil waren
diese allerdings völlig unvorbereitet für eine Studienreise und wußten
mit den sie bestürmenden Eindrücken nichts anzufangen. Die Tagebücher,
in denen sie ihre Beobachtungen festhielten, wimmeln von Naivitäten.
Immerhin befanden sich unter ihnen auch einige aufgeschlossene Geister,
und darunter vor allem zwei, die Medizin studieren wollten, Pjotr
Wassiljewitsch Postnikow und Grigorij Wolkow. Postnikow, Sohn eines
Edelmanns und Diplomaten, war 1692 nach Padua gesandt worden und darf als
der erste Russe gelten, der an einer europäischen Universität zum Doktor
der Medizin promovierte (1694). Für seine vielseitige Begabung spricht
nicht nur, daß ihn der Zar auf seiner ersten Studienreise als Leibarzt
mitnahm, sondern auch, daß ihm zahlreiche diplomatische Aufgaben
übertragen wurden. So weilte er zum Beispiel von 1701 bis 1710 in Paris,
allerdings unter großen Schwierigkeiten, da es ihm an Geld fehlte, um
sein Land wirksam zu repräsentieren. Wolkow war der Sohn eines Beamten
und erhielt auf die Bitte seines Vaters vom Zaren die Gunst, 1698 nach
Padua reisen zu dürfen, um dort vor allem Medizin zu studieren. Über
sein weiteres Schicksal ist nichts Sicheres bekannt; möglicherweise ist
er identisch mit einem Wolkow, der später als russischer Gesandter in
Konstantinopel, Paris und Venedig amtete, was von neuem die Beobachtung
bestätigen würde, daß Ärzten in Rußland oft wichtige diplomatische
Aufgaben zugedacht wurden.
Peters Beziehungen zu Holland waren für die ganze Richtung, die die
Entwicklung der russischen Medizin im 18. Jahrhundert nehmen sollte,
ausschlaggebend. Zum wichtigsten Vermittler der europäischen Medizin in
Moskau wurde Nicolaa Bidloo (gest. 1735) aus Amsterdam, wo sein Vater
Govert (1649 bis 1713) Professor der Anatomie gewesen war. Der russische
Gesandte Graf Matwejew berief ihn 1702 als Leibarzt zu Peter dem Großen,
in einem Vertrag verpflichtete er sich auf sechs Jahre zum Dienst am
Zarenhof gegen ein jährliches Gehalt von 2500 holländischen Gulden.
Bidloo begleitete den Zaren auf seinen ersten großen Feldzügen, da er
aber von zarter Konstitution war, ersuchte er um Enthebung aus diesem
anstrengenden Dienst und regte den Zaren gleichzeitig zu seiner
wichtigsten Tat auf medizinischem Gebiet an: zur Gründung des Moskauer
Hofspitals (1706) Bidloo war dessen Leiter und lehrte gleichzeitig an der
damit verbundenen medizinisch-chirurgischen Schule, die für die Aufnahme
von 55 Schülern gedacht war. Während nahezu dreißig Jahren bildete
Bidloo an dieser Anstalt Wundärzte für die russische Armee aus, wobei
hervorzuheben ist, daß er häufig Sektionen ausführte und öffentliche
anatomische Demonstrationen abhielt, oft in Gegenwart des Zaren. Peter
schätzte Bidloo außerordentlich und pflegte auch persönlichen Umgang
mit ihm, wobei ihn besonders Bidloos Vielseitigkeit und sein Reichtum an
Kenntnissen anziehen mochten: er verstand sich auf Musik und
Schauspielkunst, war bewandert in Hydraulik, Bau- und Gartenkunst und
vermochte so dem lerneifrigen Zaren auf den verschiedensten Gebieten
Wertvolles zu vermitteln.
Während seiner Regierungszeit hat Peter der Große im gesamten nicht
weniger als zehn große Spitäler und ungefähr 500 Lazarette errichten
lassen, darunter das für die Zivilbevölkerung bestimmte
"Invaliden-Hospital " (1715) und ungefähr zur selben Zeit das
"Admiralitätskrankenhaus" für die von ihm neu ins Leben
gerufene Flotte; 1717 entstanden ein entsprechendes Krankenhaus für das
Landheer, ein Versorgungshaus für alte Soldaten und ein Findelhaus. 1701
hatte er in acht verschiedenen Provinzstädten Apotheken errichten lassen,
1706 die erste öffentliche Apotheke in dem neu gegründeten Petersburg,
und 1707 ersetzte er die beiden alten kaiserlichen Apotheken in Moskau
durch neue Die Armee ließ er mit zahlreichen Feld und Garnisonsapotheken
ausstatten, kleinere Kampfeinheiten erhielten einen Feldscherer zugeteilt
und jede Division mindestens einen Arzt mit dem notwendigen
Sanitätspersonal. Die alte Apothekerbehörde wurde umgestaltet und den
neuen Verhältnissen angepaßt, nicht mehr ein Bojar stand ihr vor wie
früher, sondern ein Arzt mit dem Titel "Archiater". Die Kanzlei
konnte über ein hohes Jahresbudget verfügen.
Zur Auffindung von Mineralquellen unter Peter dem Großen
Peter der Große weilte 1698 im Kurort Baden bei Wien. 1716 ließ er
sich in Pyrmont behandeln, 1717 in Spaa und in
Aachen Es ist aber kennzeichnend für sein Bestreben, die westliche Kultur
nach Rußland zu verpflanzen, daß er planmäßig auch nach Mineralquellen
im eigenen Lande suchen ließ.
Schon 1714 hatte zufälligerweise ein Arbeiter in Olonez im hohen
Norden eisenhaltige Quellen entdeckt. Als Lohn empfing er von Peter dem
Großen ein Stück Land und war für
Lebenszeit von allen Steuern befreit worden. Peter selbst besuchte den Ort
1719, 1720 und 1722.
Aus dem Geist der patriarchalischen Staatsauffassung des 17. Jahrhunderts
heraus
verfügte Peter 1720 daß alle, die das Wasser in Olonez benutzen wollten,
sich zuerst an einen Arzt zu wenden und die von diesem aufgestellten
diätetischen Vorschriften genau zu beobachten hätten, damit das Wasser
nicht Schaden sondern Nutzen stifte.
Peter begnügte sich aber nicht mit dieser zufällig entdeckten Quelle.
Er beauftragte 1717 den Arzt Dr. Gottlob Schober (um
1675-1739), nach Quellen zu suchen, und zwar besonders
in Gegenden mit Eisenerz. Schober entdeckte im Kaukasus, wo es bekanntlich
Hunderte von Mineralquellen gibt, die "Bragunschen Quellen"
welche allerdings kein Eisen enthalten, sondern eine gewöhnliche Thermalquelle sind. In seinem Bericht erwähnt
Schober noch weitere Quellen, die er aber nicht aufsuchen könne, da es
bei der kleinen militärischen Bedeckung, die ihm mitgegeben worden sei,
zu gefährlich wäre.
1718 entdeckte Dr. Arleskine, ein Engländer und Arzt Peters des Großen,
eine Eisenquelle im Dorfe Poljustrowo, einen Kilometer von St. Petersburg
entfernt.
Auch die Quellen in Lipezk, Kreisstadt im Gouvernement Tambow das sich
später zu einem grösseren Kurort entwickelte,
wurden schon unter Peter entdeckt.
Die Entdeckung Rußlands durch den Westen
Bis auf die Zeit Peters des Großen war Rußland in Westeuropa
ungefähr so unbekannt wie zum Beispiel Abessinien. Noch Gottfried Wilhelm
Leibniz (1646 bis 1716) verglich diese beiden Länder miteinander. Bei den
alten griechischen und römischen Historikern und Geographen finden sich
nur dunkle Vorstellungen vom südlichen Rußland. Man glaubte, dieses sei
im Norden von einem unübersteigbaren Gebirge begrenzt. Ptolemäus (2.
Jahrhundert n. Chr.) erwähnt die Wolga und den Ural, glaubt aber
ebenfalls an eine Hügelkette im Norden. Adam von Bremen (gest. um 1085),
in dessen zwischen 1072 und 1076 entstandenen "Gesta Hammaburgensis
ecclesiae pontificum" wertvolle Nachrichten über die nordischen
Völker enthalten sind, wußte, daß man zu Lande von Schweden nach
Rußland gelangen konnte und daß die Ostsee im Norden geschlossen ist.
Rußland bezeichnete er als "terra feminarum" in dem Amazonen
lebten, deren Männer hundsköpfig seien. Der Reisende Giovanni Carpini de
Piano (geb. um 1200), der von Innozenz IV. (1243-1254) zum Khan der
Mongolen gesandt wurde und über Böhmen, Schlesien und Kiew reiste,
erwähnt in seinen Reisebeschreibungen den Dnjepr, den Don, die Wolga und
den Ural. Willem von Ruysbroek (geb. um 1220), ein Franziskanermönch, der
sich ebenfalls an den Mongolenhof begab, erkannte das Kaspische Meer als
einen Binnensee und widerlegte damit den Irrtum, der bis dahin geherrscht
hatte, daß es ein Arm des Eismeeres sei. Auch bei Carpini spukt die Fabel
von hundsköpfigen Menschen. Erst im 16. Jahrhundert erhielt Westeuropa
zuverlässigere Nachrichten über Rußland. Im Jahre der Entdeckung
Amerikas (1492) sandte der österreichische Erzherzog Sigismund eine
Gesandtschaft nach Moskau mit dem Auftrage, Rußland zu erforschen. Sie
erhielt aber keine Erlaubnis, sich ins Innere des Landes zu begeben, auch
wurde ihr verboten, auf der Rückkehr durch Polen oder durch die Türkei
zu reisen, so daß diese Expedition ziemlich fruchtlos verlief. Mehr
erfuhr über die russischen Verhältnisse Paolo Giovio (1483-1557), der
eine russische Gesandtschaft, die sich zum Papste begeben hatte, ausfragte
und 1525 die erhaltenen Auskünfte in einem Werke niederlegte, von dem
während des 16. Jahrhunderts gegen zwanzig Auflagen und Übersetzungen
erschienen sind. Als erster widerlegt Giovio die antike Vorstellung eines
unübersteigbaren Gebirgszuges im Norden von Rußland. Er wies auch auf
die Möglichkeit einer nordöstlichen Durchfahrt nach China hin: ein
Gedanke, der später von verschiedenen Forschungsreisenden aufgegriffen
worden ist. Über die Religion der Russen, über die Giovio nichts
Näheres mitteilt, schrieb 1525 der Wiener Bischof Johannes Fabri von
Leutkirch (1478-1541), ebenfalls auf Grund von Mitteilungen russischer
Gesandter. Als der "Kolumbus Rußlands" wird der Freiherr
Sigmund von Herberstein (1486-1566) bezeichnet Herberstein begab sich als
Gesandter Österreichs über Krakau, Wilna und Nowgorod nach Moskau. Er
sprach russisch und konnte russische Chroniken verwerten. Seine
topographischen Messungen sind zwar unglücklich ausgefallen, aber sein
Abriß der Geschichte Rußlands, seine kulturgeschichtlichen Beobachtungen
über Eheschließung, Bewaffnung, Geld usw. und der Plan, den er von
Moskau zeichnete, sind wertvoll. Auch Herberstein tischt seinen Lesern
noch phantastischc Erzählungen auf, z. B. von behaarten Menschen, von
Fischen in Menschengestalt, deren Fleisch sehr wohlschmeckend sei, von
einem Schaf, das aus einem Melonensamen gewachsen und mit einem Stengel am
Boden befestigt sei. Den Seeweg nach China, von dem Giovio geschrieben
hatte, suchte 1553 die englische Gesellschaft "The Mystery Company
and Fellowship of Merchant Adventurers for the Discovery of Unknown
Lands" zu finden. Eine von ihr ausgerüstete Expedition landete an
der Mündung der Dwina, nahe des heutigen Archangelsk. Es gelang den
Engländern, enge Handelsbeziehungen mit den Russen anzuknüpfen und vor
andern Ländern sich Privilegien zu sichern, ähnlich wie es später in
Indien der Fall war. Die Expedition von 1553 wurde geradezu als Entdeckung
Rußlands empfunden, und es entstand in
England eine reiche Literatur über die neu erschlossenen Gebiete;
darunter befindet sich auch ein Werk des berühmten Dichters John Milton
(1608-1674).
Den Engländern versuchten auch die Holländer nachzueifern, und im
Auftrage der Generalstaaten unternahm Isaak Massa (1587-1635), der
Handelsagent für Seidenhandel in Moskau war,
eingehende kartographische Studien und sammelte auch Angaben über
Sibirien, das bis zu jener Zeit ganz unbekannt gewesen war. Das
berühmteste Reisewerk über Rußland stammt indessen von Adam Olearius
(um 1603-1671), der sich im Gefolge einer holsteinischen Gesandtschaft
nach Rußland begab. Er zeichnete alle seine Karten und Ansichten an Ort
und Stelle. Auf seiner zweiten Reise (1635-1638) wurde Olearius vom
Dichter und Arzt Paul Fleming (1609-1640) begleitet, der seine Eindrücke
zum Teil in seinen Gedichten verwertete.
Die Herstellung eines russischen Buches um die Mitte des 17.
Jahrhunderts
Auf Veranlassung des Zaren Alexej Michajlowitsch verfaßte 1648 ein
Redaktionskomitee ein neues Gesetzbuch. Über die Drucklegung dieses
Werkes ist eine Abrechnung erhalten. Das Buch umfaßte 330 Seiten in
Oktavformat und wurde in einer Auflage von 1200 Exemplaren gedruckt. Die
Gesamtkosten betrugen 952 Rubel, wovon 506, also mehr als die Hälfte, auf
das Papier kamen. Den Setzern, Buchbindern usw. wurden 320 Rubel Lohn
bezahlt, woraus hervorgeht, daß offenbar ziemlich viele Kräfte damit
beschäftigt waren, das Buch fertigzustellen. Dafür spricht auch, daß es
in der kurzen Zeit von einem halben Monat und zwei Tagen gedruckt war. Die
Schnelligkeit des Druckens ist besonders bemerkenswert angesichts der
primitiven Technik jener Zeit. Die Druckerschwärze konnte z. B. nicht aus
einer Fabrik bezogen, sondern mußte in der Druckerei selber zubereitet
werden. Deshalb finden sich in der Rechnung folgende Posten: 16 Pfund
Zinnober, 70 Krüge Farbe für Tinte oder Schwärze, 2 Pfund weiße Farbe,
ein Stück Gummi, einige Stücke Farbe usw. Ebenso mußten die Bürsten
selber angefertigt werden, wozu 7 Pfund Borsten gekauft wurden. Außerdem
werden aufgeführt: 3600 Nägel, Kuhbutter für das Ölen der Bogen und
der Presse, Mehl für Kleister, Stricke, Bast, Eisen, ein Sack Kohlen usw.
Offenbar mußte also das ganze zum Druck erforderliche Material vorerst
angefertigt werden. Aus der Rechnung geht außerdem hervor, daß für den
Zaren und den Patriarchen Exemplare in besonderen Prachteinhänden
geliefert wurden und daß ein Geistlicher nach Beendigung der Arbeit einen
Dankgottesdienst abhielt, wofür er bezahlt wurde.
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