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Der Scharlatan

Ciba-Zeitschrift Sept.1936 Nr.37

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Inhalt
Scharlatanerie
Scharlatane aus drei Jahrhunderten
         I. Alchimie und Weltbild der Renaissance
       II. Scharlatan und Theater
      III. Fälscher der Meinung
      IV. Das Jahrhundert der Scharlatane

                                                                                                                                    Gegenrede von Dr. Michael Brandner (vom 25.1.2001)

Scharlatanerie

Von Grete De Francesco, Mailand

Verwandlung ist das Licht, an dem menschlicher Traum und menschliche Sehnsucht sich entzünden. Verwandlung, Änderung der aus den mannigfaltigsten Gründen lastenden Existenzbedingungen, Befreiung von ihnen: Verbesserung. Die intensivste Hoffnung auf Verwandlung garantiert noch nicht, daß sie auch wirklich eintritt, sie wird immer ungesetzmässig, immer als Überraschung oder aber als Gnade sich ereignen, unberechenbar wie das Schicksal. Diese Unberechenbarkeit ist es, diese Unsicherheit, die der Vorstellung von Verwandlung das mystische dem Alltag entrückte Fluidum verleibt, und das äußert sich auf völlig verschiedenen Ebenen. In der religiösen schönen Vorstellung, die sich auf tiefen Glauben gründet, ist das Heiligste, das göttliche Wunder, ein Akt der Verwandlung: der Heiland verwandelt Wasser in Wein, er macht die Blinden sehend, er verwandelt Tod in Leben. Hier wird Verwandlung demütig als Gnade empfunden, nach der keiner vermessen die Hand auszustrecken, die keiner zu verlangen wagt.
Im Gegensatz hierzu und aus gänzlich andern Impulsen, und dennoch aus derselben Urquelle fließend, kommt die uralte Lust am Verwandlungskünstler der Bühne, dem, der in den Leib verschiedener Personen zu schlüpfen imstande ist (eine in der griechischen Mythologie - man denke an die Verwandlungen des Zeus - rein göttliche Fähigkeit), der sein Ich abstreifen, also sich verwandeln kann. Hier wird noch mit offenen Karten gespielt, der Schauspieler kehrt nach der Vorstellung in sein Ich zurück und das Publikum erwartet es nicht anders. Beim Zauberer und Taschenspieler verschiebt sich der feste Boden gesunder Kritik (das Publikum ist Richter darüber, ob dem Schauspieler die Verwandlung gelungen oder nicht) schon bedenklich. Auch hier handelt es sich häufig um Verwandlungen, die Leere eines Korbes wird in ein Rosenarrangement, ein bescheidenes Taschentuch in eine Flaggengala verwandelt, oder aber Gegenstände, die durch ihre Schwerkraft der Erde verhaftet sind, verwandeln sich in solche, die munter durch den Raum fliegen. Das Undurchsichtige und zugleich die sich aneinander entzündende Einbildung der Zuschauer tritt in Erscheinung, aber noch immer ist die Voraussetzung, daß allein die Geschicklichkeit, also eine meßbare und nicht ins Mystische entrückte Fähigkeit, das Geheimnis des Taschenspielers ausmacht. Existenzgesetze werden zwar aufgehoben, aber die vorgeführten Künste berühren nur Unwichtiges, Spielerei, sie sind vollkommen beziehungslos zur menschlichen Existenz, dem Einzelschicksal und seiner Linderung. Die Kunst des Taschenspielers, eine manuelle Kunst, ist aber in früheren Jahrhunderten ein obligates Requisit - nicht mehr - einer Spezies von Verwandlungskünstlern, oder präziser: Künstlern im Versprechen von Verwandlungen gewesen - deren Erfolge tief in der menschlichen Sehnsucht nach Änderung wurzelten, deren Methoden aber einen ganz spezifischen, begriffschaffenden, komplizierten und schwer zu definierenden Charakter hatten: der Spezies der Scharlatane.
Spricht man heute von Scharlatan, so ist meistens ein medizinischer Scharlatan gemeint, wendet man das Wort auf einen andern Berufskreis an, so hat man das Gefühl, in übertragenem, aus der Medizin übertragenem Sinn zu sprechen. Das ist durchaus nicht immer so gewesen; jedoch war die medizinische Tätigkeit dem Gesamtbegriff des Scharlatans immer zugeordnet. Wir werden im Laufe dieser Arbeit ausführen, wie sich der Typ des gauklerischen Scharlatans aus der Atmosphäre des ernsten alchimistischen Forschers entwickelt hat. Was aber ist das Ziel dieser Forschung gewesen? Verwandlung, Veränderung! Die aristotelische Lehre von der Umwandelbarkeit der Elemente, die das ganze Mittelalter so stark beeinflußt hat, ließ die Hoffnung auf Verwandlung unedler Metalle in Gold aufzucken; aber schon in dem ersten Jahrhundert n. Chr. wurde in den Schriften des Pseudo-Demokrit und des Hermes Trismegistos (der dreimal Große) gesagt, daß das magische Elixier, das zu finden Endziel bedeutete, nicht nur unedle Metalle in Gold zu verwandeln, sondern auch Krankheit in Gesundheit, Alter in Jugend zu verwandeln imstande sein werde. Und ist nicht jede Heilung Verwandlung ? Wie sinnfällig war das dem von Seuchen geplagten Menschen, wenn er den von Geschwüren bedeckten Körper wieder heil und glatt werden sah. War die Arbeit der ernsten mittelalterlichen Alchimisten zweckfreie wissenschaftliche Forschung, so war ihre Ausnützung durch das Zerrbild des universalen Menschen, durch den Scharlatan der Renaissance, zweckbestimmte, dem eigenen Vorteil und Geltungstrieb dienende Praxis, ohne die Basis ernster wissenschaftlicher Forschung und ohne Überzeugung. Und so stellt das Zeitalter, das den Typ des Scharlatans am deutlichsten profiliert hat, ihn bereits mit einer großen Anzahl seiner wesentlichen und ewigen Eigenschaften vor. Anleihen ohne Quellenangabe bei der Wissenschaft zu machen, deren Glaubenskredit man sich zu Nutze macht und ihn zugleich erschüttert, das ist eine charakteristische Methode für diejenigen, deren Wissen Halbwissen, deren Bildung Scheinbildung ist. Ein Halbgebildeter muß selbstverständlich kein Scharlatan sein, jedoch sind die meisten Scharlatane Halbgebildete gewesen.
Man ist geneigt als kennzeichnend für den Scharlatan anzusehen, daß die Pseudoärzte der Marktplätze und jene, die die Großen der Welt, gejagt von der Angst vor der flammenden Belsazarschrift gläubig konsultierten, Smaragd, Topas und Achat, Trinkgold und allerlei Pflanzen, ja sogar menschliche Sekrete medikamentös verabreichten. Aber das ist eine nur durch Rückschauen vom Standpunkt moderner Erkenntnis geprägte Wertung. Zusammenhänge mit der Alchimie traten bei der Wahl der Medikamente in Erscheinung, die übrigens teilweise von der Wissenschaft akzeptiert wurden, wie ja überhaupt ein ständiger Austausch von befruchtenden Anregungen zwischen Wissenschaft und Scharlatanerie nachzuweisen ist. Aber nicht die Wahl der Medikamente, sondern die Art und Weise mit der sie angepriesen wurden, die Berufung auf die Geheimnisse uralter Weisheit, die des Beglückers mystischen Privatbesitz ausmachten, die Legitimierung durch Erfolge und Zustimmung bei hohen und höchsten Personen und die Aufmachung, in der selbst widerliche Ingredienzien den durch das Zaubermittel der Propaganda empfänglich gemachten Patienten dargeboten wurden, darin bestand in Wahrheit Scharlatanerie. Auch manche der Medikamente und Behandlungsmethoden der Ärzte erscheinen mit dem Maßstab heutiger Wissenschaft gemessen als scharlatanesk, ohne daß bei diesen Ärzten irgendeine Neigung zur Scharlatanerie bestanden hätte. Sie handelten auf Grund erworbener Kenntnisse und im besten Glauben; nicht für den kleinen Quacksalber der Märkte, sondern für den wissenden Scharlatan gilt der Vorwurf, kein Gutgläubiger, sondern berechnender Spekulant zu sein.
Die Scharlatane aller Zeiten waren Meisterin der Menschenkenntnis und der Menschenbehandlung, immer mieden sie die denkenden und wendeten sich an die gläubigen Menschen. Die Ausnützung der menschlichen Sehnsucht nach Verwandlung, die tiefstem menschlichem Leid entspringt, das skrupellose Jonglieren mit dem Vertrauen der Hoffenden ist eine der teuflischsten Plagen, von denen die Menschheit heimgesucht wird. Es ist kein Zufall, daß der Maler der Höllenvisionen, daß Hieronymus Bosch, den Meisterjongleur, den Scharlatan, der die Einfältigen nicht im Sinne des Christentums der Seligkeit zuführt, sondern der Hölle überantwortet, in den Kreis seiner Darstellungen einbezieht (s. Abb.). Wie verstrickend ist der Kontakt, den der Scharlatan mit dem einen ihm hingegebenen und verfallenen Individuum herzustellen versteht. Hinter dem den Zauber durstig trinkenden Mann der simulierende, sich bereichernde Mitläufer, neben ihm die abweisend beobachtende, schon halb schwankende Frau. Unter den Zuschauern sind außer dem die Ablenkung der Andern nützenden Liebespaar zwei völlig voneinander verschiedene Typen zu beobachten: die Denkenden, immun Gebliebenen sind diejenigen, die den Scharlatan gar nicht ansehen, sondern nur den Verfallenen, den infizierten, und entsetzt lächeln. Die prädestinierten Gläubigen sehen nach dem Scharlatan hin. Der kleine Mann vorne noch halb ironisch und doch schon fast gefangen; auf den aber, der hinter ihm steht, ist der Funke schon übergesprungen, Verzückung liegt in der Kopfhebung des blassen Gesichtes. Und der Scharlatan selbst ? Die hypnotische Kraft seines Blickes wird verstärkt durch das magische Requisit, durch Kleidung und Hut. Er sieht anders aus als die andern. Und hier wird, allerdings in etwas anderem Sinn als bisher dargelegt, das Mittel der Verwandlung ausgenützt.
Viele der kleinen Scharlatane der Märkte, aber auch die großen Weltbürger, Cagliostro etwa, agierten im Gewande von Indern, Türken, Ägyptern, Magiern. Der Legitimation durch Wissen wird ausgewichen, an ihre Stelle tritt die Legitimierung durch die Behauptung von der eigenen Berufung und durch Geheimwissen, das sich aus Ländern herleitet, in die der kritische Blick der Opfer nicht zu dringen vermag. Das Kleid verwandelt. Aber es ist nicht die einzige Kostümierung. Im Kleide der Wissenschaft tritt ein verwandelter Unwissender auf, im Kleide der Fremde stellt sich der Scharlatan vor, der als ein besseres, ein wissenderes Wesen aus einer andern Welt kommt, die sich wiederum dem kritischen Blick entzieht. Wir sehen, daß der Dunst von Geheimnisvollem, den jeder kleine Wundertäter der Marktplätze ebenso um sich zu verbreiten bemüht war wie etwa Cagliostro, neben der Faszination des Augenblicks noch praktische Hintergründe hatte: Ausschaltung der Kritik: Diskussion konnte gar nicht aufkommen, da die tangierte Basis des Wissens und Handelns eines Scharlatans sich fachlicher Auseinandersetzung von vornherein entzieht, wie die schwebenden Fäden des Altweibersommers der greifenden Hand. Und da die Praxis sich der Umhüllung mit Zauberschleiern, der Begleitung mit betörenden Akkorden eher gefügig zeigte, lenkten diese Vernebler des Bewußtseins von jeder Theorie ab, ja sie verhöhnten unter dem Beifall der Menge die theoretisch fundierte Wissenschaft. Dieser Ablenkung und zugleich der Schwächung der Urteilskraft galten Prunk und Pomp, mit dem die Scharlatane sich umgaben.
Die zeitgenössischen Kritiker der Scharlatane werfen ihnen immer wieder ihren Wortreichtum, die bombastische Unklarheit ihrer Rede und ihre wiederholungsreiche Länge vor. Sie stoßen sich als Schüler klassischer Redekunst an Formalem und Unwesentlichem, sie erheben den Vorwurf mangelnder Bildung und übersehen dabei, daß das schillernde Wort methodisch das wichtigste und erfolgreichste Werbemittel jeder Scharlatanerie ist.
Immer und ganz besonders in seiner sprachlichen Formulierung ist der Scharlatan prinzipieller Feind jeder Präzision, auf ständiger Flucht vor jeder Klarheit.
Es ist fast unmöglich, die vielen Scharlatantypen von Eisenbarth bis Vitali, von den zahllosen Marktschreiern bis zum Grafen St. Germain auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Denn es darf nicht vergessen werden, daß, ganz abgesehen von der Ausübung der Scharlatanerie, das Wort Scharlatan einen menschlichen Typus bedeutet, der, auf der großen Skala der Individualitäten gespielt, jedesmal einen andern Ton hat. Man kann Gemeinsames zusammenfassen, man kann etwa sagen, daß viele Scharlatane im Negativen, in der Kritik an Irrtümern ihrer Zeit recht hatten, gemeinsam ist auch die Werbung durch die eigene Person und ein als Werbeschauspiel in Permanenz aufgefaßtes Erdendasein. Man kann, denkt man etwa an die moderne Scharlatanerie von Gallspach, immer wieder auf die Wirkung der Herkunft von Person und Lehre aus weiter Ferne hinweisen und darauf, daß ein vages Wissen der Menge um die Wissenschaft - in diesem Fall die moderne Strahlentherapie - zum eigenen Vorteil mit Erfolg ausgenützt wird, ja, dass selbst das magische Requisit, der Zauberstab, nichts an Werbekraft einbüßt.
Alles das beweist, daß der Scharlatan auf der Basis halben Wissens halbe Wahrheit verbreitet und bewußt oder unbewußt die Verwandlungshoffnung der Leidbeladenen zum eigenen materiellen Vorteil, zur Befriedigung seines Geltungstriebes ausnutzt.
Durch alle Zeiten schreitet seine Gestalt, schillernd in der unerschöpflichen Vielfalt menschlicher Individualität.

 

Scharlatane aus drei Jahrhunderten

Grete De Francesco, Mailand

I. Alchimie und Weltbild der Renaissance

Die Kunst der Fälschung reicht ebensoweit in vergangene Zeiten zurück wie die Geschichte der Entdeckungen. Papyrusfunde, die die hochentwickelte Wissenschaft und Technik des alten Ägypten bezeugen, berichten über die Kenntnis von Metallen, Glas und Farbstoffen und die gleichzeitig blühende Kunst, Edelsteine, Edelmetalle und Farbstoffe künstlich zu gewinnen. Während aber keinerlei Geheimnis die Wissenschaft umgibt, sind es Geheimrezepte, die von der Kunst zu fälschen berichten. Zwei gänzlich verschiedene Motive haben in allen Zeiten Fälschung und Geheimnis aneinandergekettet. Einmal ein rein ökonomisches: Erzeuger und Besitzer echter Produkte verfolgten die konkurrierende, billige Imitation, die sich vor ihnen verbergen mußte. Dann aber ein psychologisches: die Hauptkonsumentin der gefälschten Stoffe, die Masse, will sich billig jene Güter zu eigen machen, deren Besitz wegen Teuerkeit die Wenigen, eben die Besitzenden (von Sach- oder Bildungswerten) charakterisiert; sie will vermittels der Fälschung etwas scheinen, was sie nicht ist. Produzenten und Konsumenten sind also gleichermaßen interessiert am Geheimnis der Fälschung. Es ist gut, sich das klar zu machen, bevor man die Sucht nach Zauberei, die Sehnsucht nach Irrealem zur Erklärung für die Erfolge der Fälscher und die Bereitschaft der Menge heranzieht. Die Sehnsucht nach Irrealem ist allen in ihrer Sicherheit erschütterten Zeiten in besonders hohem Maße eigen, sie ist aber durchaus nichts Einheitliches, ihre Äußerungen sind nicht gleichartig. Sie ist so wenig einheitlich wie die Sicherheit selbst. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Reich des Irrealen, das eine ihrer religiösen Sicherheit beraubte Menschheit und jenem, das eine in ihren Besitzverhältnissen getroffene, wirtschaftlich sich umgestaltende Welt verlangt, und völlig verschieden wird auch der Vermittler sein, die Figur des Magiers, des Zauberers, des Scharlatans.

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Die Macht der Geheimwissenschaften, die man als Basis all der abenteuernden Scharlatanexistenzen späterer Jahrhunderte ansehen muß, erstarkte neu in einer Kulturepoche, deren Kenntnis zum Verständnis des Wesens des Scharlatans unerläßlich ist: in der Renaissance. Als geistige Einheit betrachtet, stellt sie sich dar als eine Zeit, in der sich die Auflösung des religiösen Dogmas des Mittelalters vollzieht, ohne einen Ersatz gefunden zu haben, eine Zeit, die nicht mehr den Glauben und noch nicht das Wissen hat. Es herrscht die Alchimie - aber sie steht im Begriff zur Chemie zu werden, es herrscht die Astrologie, aber sie steht im Begriff zur Astronomie zu werden. Der Stein der Weisen, Gut des alten Ägypten, lebt nicht nur in der Vorstellung der Alchimisten, sondern beschäftigt alle Menschen. Gleichzeitig verwandelt er Metalle, schafft also Gold und schenkt die Universalmedizin, das Lebenselixier. Diese Gleichzeitigkeit sollte die Gold und Leben verkoppelnde Praxis aller Scharlatane beherrschen. Diese Zeit zwischen Glauben und Wissen ist beherrscht von Intelligenz plus Phantasie, ihr Denken vereinfacht nicht, und so erfüllt sich für sie die Welt mit Kraft und Leben, mit Abenteuern. Niemals wieder haftete der Fälschung soviel Unbewußtes, echt Phantastisches, ja Künstlerisches an wie damals. Ja, die Entwicklung der Kunst zeichnet deutlich diese Wendung. Der Übersetzung des Wortes in ein sinnfälliges und verständliches Bild, also mittelalterlicher Kunst, folgte das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa (1503), dessen Unverständlichkeit und Problematik als höchster Wert empfunden wurde. Die Zuwendung zum Diesseits vollzieht sich eben ohne Hilfe entwickelter Naturwissenschaften, und das bedingt ein Verharren in der Anschauung, Wirkung bleibt ohne Deutung, die ganze Welt wird zum Problem. In der Liebe zur varietas rerum wird gedankliches vom Sinnlich-Gegebenen noch nicht getrennt; so entstehen verschiedene Wirklichkeitsbilder, jenes Durcheinanderspielen von Wirklichem und Unwirklichem, Charakteristikum jedes scharlatanhaften Handelns. In einem so beschaffenen Weltbild gewinnt das Reisen einen neuen Aspekt; ein unruhiger Drang treibt, diese Welt voll Abenteuern zu schauen. „ Quel mio genio di viaggiator!" ruft später der große Verteidiger seines Scharlatanberufs, Buonafede Vitali, aus und wirft den gelehrten Professoren vor, daß sie die Welt nicht mit ihren Augen gesehen. Hinter des 18. Jahrhunderts großen Scharlatanen, aber auch hinter seinem Drang, weg aus der Studierstube in die Anschauung des Lebens, in den Osterspaziergang durch die blühende Welt steht der große und ernste Schatten der Renaissance. Das 17. Jahrhundert, in dem Kriege und Seuchen die Menschen aufwühlten, in dem Glaube und Aberglaube sich nur mehr durch staatliches Privileg unterschieden, verallgemeinerte den Typ des Scharlatans. In Massen ziehen die Quacksalber auf Plätze und Märkte. Aber erst im 18. Jahrhundert profiliert sich noch einmal die große Figur des Scharlatans, die noch größere der ihm verfallenen Menschheit. Immer dann, wenn die himmlische Seligkeit an Wert verliert und wenn das Jenseits mit der Hölle droht, beginnt die Verklammerung der Menschheit in das Diesseits und seine Seligkeit. Gold erschließt sie, das Lebenselixier verlängert sie. Gold und Lebenselixier bietet der Scharlatan an. Die Alchimie, die, als sie aus den Klosterzellen trat, ihre ernste Forschung in den Dienst der Medizin stellte, lieferte den Ausbeutern unwissentlich die Handhabe. Alchimist und Scharlatan ist nicht dasselbe. Was unterscheidet den Scharlatan vom geschwätzigen Quacksalber oder dem armen Medizinstudenten, der sein Studium nicht beenden konnte, und deshalb als Salbenkrämer herumzog? A.Chereau gibt im Dictionnaire des sciences med. folgende Definition der Scharlatane: „ ... qui promettent, ce qu'ils n'ont pas, et font croire aux autres ce qu'ils ne croient pas eux-memes; entre tous ceux qui, destillateurs des mensonges, speculent sur la credulite et la betise humaine." Die italienische Definition des dizionario della Crusca: „ con abbondanza di parole artihciose ... corcano di spacciare il falso per il vero, traendo proFtto dall'altrui credulita." Beide Definitionen weisen auf das entscheidende Moment hin: Spekulation auf menschliche Leichtgläubigkeit, die italienische setzt hinzu „zum eigenen Vorteil" . Erst die betrügerische Absicht und das Besserwissen kennzeichnet den Scharlatan. Er ist ein Fälscher des Wissens. Er ist aber auch, wie Chereau so schön und durchaus im Bildbereich seines Themas bleibend sagt: „destillateur des mensonges„ , er destilliert die Lüge, er macht sie erst wirksam. Er ist ein Falscher der Meinung. Wir sprachen zu Anfang von der Kunst der Fälschung; wir werden Scharlatane als Künstler der Meinungsfälschung zu betrachten haben.
Der Lebenslauf und die Natur des Baslers Leonhard Thurneisser (1530-1596) ist in hohem Maße charakteristisch für den Typus des alchimistischen Scharlatans. Sohn einer Basler Ratsfamilie, wird er Famulus bei dem Basler Arzt Johann Huber und erhascht bei ihm die Lehren des Paracelsus. 17 jährig heiratet er eine Witwe, gerät in Schulden, flieht und treibt sich 10 Jahre herum als Soldat, Goldschmied und Wappenstecher. Varietas rerum ... 28jährig heiratet er zum zweitenmal und geht mit seiner Frau nach Tirol, wo er eine Schwefelschmelze einrichtet. Alles, was aus der Erde Eingeweiden kommt, hat die Scharlatane aller Zeiten angezogen, häufig finden wir sie als Minenverwalter oder Entdecker heilkräftiger Quellen. Erzherzog Ferdinand von Österreich schickte ihn zum Studium des Berg- und Hüttenwesens auf Reisen. Er kommt durch ganz Europa und in den Orient. Scharlatane haben immer an Höfen ihre Mäzene gefunden, Wissenschaftler selten. Im Orient beschäftigte sich Thurneißer mit den Geheimnissen der Adepten, am stärksten zog ihn aber die Heilkunde an, er sammelte Rezepte und medizinische Schriften. Als Arzt kehrte er 1562 nach Tirol zurück, zum Arzt fühlte er sich berufen. Das Gefühl des Berufenseins finden wir immer wieder bei Scharlatanen, es dient als Legitimation, wo die Legitimation durch Wissen fehlt. Die mysteriösen Behauptungen seiner Schriften verschafften ihm einen neuen Mäzen, den entzückten Kurfürsten von Brandenburg, der ihn als Leibarzt nach Berlin berief und ihm im Kloster der grauen Brüder ein Laboratorium einrichtete. Der weitgereiste Heilkünstler hatte hier beispiellosen Erfolg, 12 Sekretäre hielt er zur Erledigung seiner Korrespondenz und führte ein großes Haus. Gelehrte und Künstler, ja den Kurfürsten selbst sah er bei seinen Gelagen zu Gast. Wieder eine Manifestation, die allen Scharlatanen gemeinsam ist: Prunk und großer Train gehören zur Blendung der Menschen, sie sind ein Mittel der Meinungsfälschung. Thurneißer verkaufte Medizinen und Geheimrezepte zu phantastischen Preisen, das heilkräftige „Trinkgold" hatte besonderen Erfolg. In den Flüssen der Mark fischte er Edelsteine. Die Wissenschaft in Gestalt zweier Professoren brachte ihn zu Fall. Es ist aber für die Zeit sehr bezeichnend, daß die medizinischen Streitschriften nicht etwa seine Erfolge anzweifelten, sondern ihn der Zauberei und der Hilfe des Teufels zeihen und auf diese Weise seine Erfolge erklärten. Die Goldmacherei entpuppte sich auch als Schwindel, und so mußte Thurneißer fliehen. In Basel heiratete er ein drittes Mal, ließ sich wieder scheiden, wobei er Prozeß und Vermögen verlor. Er reiste weiter durch die Welt, hatte wenig Erfolg mehr und starb 1596 in einem Kloster zu Köln. Hier haben wir im Lebenslauf eines bewußten Scharlatans das Abbild jenes Auf und Nieder, das die Existenz des echten alchimistischen Forschers ebenso charakterisiert, wie die der Scharlatane des 18. Jahrhunderts. Einem Taumeln vom Entschleiern von Welträtseln in bittere Enttäuschungen entsprach der äußere Ablauf: Schaustellung und Versteck, Erfolg und Verfolgung wechselten ununterbrochen, selbstverständlich wurden diese Menschen zu Abenteurern und großen Reisenden. Das geflügelte Pferd in Thurneißers Wappenzier hält einen Globus.
Den Typus des „magnetisch-biblischen" Arztes verkörpert der Brabanter Edelmann und Alchimist Jean Baptist van Helmont (1577-1644). Häufig werden diese Art Menschen zu Unrecht als Scharlatane bezeichnet. Helmonts Lehre (z.B. ein Gran des Stein der Weisen auf Quecksilber geworfen, gibt Gold) war durchaus scharlatanhaft, sein menschliches Verhalten aber durchaus nicht. Das ist die gefährlichste Konstellation, jene, aus der Generationen betrügerischer Scharlatane ausnützerisch schöpfen und sich dennoch auf die Reinheit des Einen berufen können. Niemals hat dieser noble Mensch auf die Leichtgläubigkeit anderer spekuliert, ja er schreibt direkt von dem „von Gott erwählten Arzt" , daß "Gewinnsucht ihn nicht bemeistern wird" und „sein Wort wird eine Trompete sein, vor der die Krankheiten fliehen, vor seinem Angesicht werden die Krankheiten verschwinden wie der Schnee im Mittag des Sommers". Er verlangt Wahrhaftigkeit „in corde enim possidebit veritatem, et scientiam in intellectu". Das ist der Gegensatz von Wissens- und Meinungsfälschung im Munde eines Alchimisten. Die Verse unter einem Bildnis dieses Träumers mit ihrem Namens-Mystizismus sind charakteristisch für alchimistische und aus ihnen sich ableitende medizinische Praktiken:

Dir ist der HELLE MOND zur Lehre von Arztneyen;

Zu langer Lebens-Frist; vor Kranckheit zu befreyen.

Er öfnet die Natur biß auf den tiefsten Grund

Komm  höre was Er sagt, der Warheit HELLE MUND.

 

II. Scharlatan und Theater

Nicht alle, ja die wenigsten der Scharlatane wollten und kamen so hoch hinaus wie Thurneißer. Sie wünschten nichts als auf Jahrmärkten ihre Riechsalze, Rosenkränze, Verjüngungswasser, Seifen, heilige und weniger heilige Bildchen und Geheimmedizinen mit Profit zu verkaufen. Wenn ihre kosmetischen Mittel sich den Schimmer hellen Mondes zum kräuterpflücken borgten, so entsprach das dem Geschmack der Zeit, war wirksame Reklame und nicht Betrug. Dieser setzte erst bei den Medizinen ein. Eine Illustration aus Grimmelshausens Simplizissimus zeigt, wie Scharlatan und Betrüger zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gleichgesetzt wurde. „ Schau wie Simplex hier betriegt, auch viel Geld von Leuten kriegt". Je zahlreicher die Quacksalber im 17. Jahrhundert wurden, desto stärker war der Zwang, die Konkurrenz durch zugkräftige Mittel auszustechen. Bei der Gleichartigkeit der verabreichten Tinkturen mußte der Konkurrenzkampf sich aber vom Inhalt des Gebotenen auf die Form der Darbietung verlegen. Daß die fahrenden Heilkünstler sich also dem Theater verbanden, war durchaus selbstverständlich. Man muß jede Vorstellung von Trennung zwischen Leben und Theater fallen lassen, um das zu verstehen. Schon in einem Monolog des Pariser Dichters Ruteboeuf (13. Jahrhundert) trat ein Quacksalber auf, der von seinen Reisen erzählt. Das erlebnisreiche Dasein, die Welterfahrung war an und für sich schon Theater für den im kleinsten Kreise eingeschlossenen Menschen des Mittelalters. Im III. Erlauer Passionsspiel schaltete sich in die ermüdende Länge und Traurigkeit als erstes überliefertes Divertimento eine Quacksalberszene. Ein Knecht, Rubin, Stammvater aller Hanswurste, kündigt den drei Marien den Salbenkrämer an, das Publikum jubelte. Vom 15. Jahrhundert an wird die Quacksalberszene zum unentbehrlichen Requisit der Fastnachtsspiele . Warum sollte das Leben nicht mit praktischem Erfolge dasselbe agieren wie die Erfolgsszene, die wieder Kopie des Lebens war ? Der wirkliche Salbenkrämer oder Scharlatan liess sich durch einen Ausrufer in der neuen Stadt ankündigen und Hanswurst, sein Knecht, sprang mit ihm auf die Bank (saltimbanco = der auf die Bank springt, italienische Bezeichnung für Scharlatan) oder auf die Bühne und pries die Tränklein. Der Unterschied war nur: die Medizinen mußten hier auch wirklich verkauft werden. Harlekin und Rosaura, Seiltänzer und Feuerschlucker wetteiferten, es war eben Jahrmarktstheater. Auf den vielen Stichen, die die Verbindung von Theater und Scharlatan bezeugen, tritt der Scharlatan oft völlig zurück und man sieht im Vordergrund eine Hanswurstszene oder der Hanswurst hält die Medizinflasche in seinen Händen. Der Tisch mit Medikamenten bleibt im Hintergrund erkennbar. Immer aber dient die Darbietung der Anlockung und dem Verkauf. Es war jedoch weniger auf den Kaufanreiz durch Anpreisung abgesehen, sondern viel mehr Spekulation auf die Urteilskraft und Willen schwächende Stimmung, in die das Publikum nach der Theaterlust gerät. Denn nachher erst wurde behandelt in einem Zelt oder auch auf der Bühne. Das zog ebensoviele Zuschauer an wie die Hanswurstszene, war doch auch das Theater, weshalb es nicht weiter verwunderlich ist, daß der Wunderdoktor oft selbst kostümiert auftrat.

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Ob der Scharlatan, ob ein besonders begabter Schauspieler Protagonist dieser Darbietungen war, das wechselte nach der Stärke der Persönlichkeit. Jean Salomon Talsarin (1584 - 1633), dessen Name in Frankreich einen theater- und scharlatanerie-verschmelzenden Begriff bedeutet, ein Possenreißer von Geist und Temperament, trat nur als Lockvogel für die Kunden seines Tränklein verkaufenden Socius, des Drogisten Mondor, auf. Nur am Freitag wurde das Theater Selbstzweck, an Stelle Mondors trat eine Frau, Francisquine, und die Medizinen waren vergessen. Protagonist aber blieb für sein Publikum von Dienern, Boten, Schülern und Handlungsgehilfen, das sich vor Lachen über ihn schüttelte „depuis le talon gauche, jusqu'a l'oreille droite", und bleibt für die Nachwelt Tabarin. Er spielte auf einer Estrade der Place Dauphine, jenem dreieckigen, belaubten und verwunschenen Platz der Pariser Ile de la Cite, der einen noch heute empfängt wie eine kleine, verlassene Bühne. Tabarin soll in Paris geboren und gestorben sein. Er selbst erklärte - und darin gleicht er bereits St.Germain und Cagliostro - sehr Unterschiedliches, seine Herkunft von Frankreich nach Italien verlegend. Manchmal - wahrscheinlich in weinbeschwingten Augenblicken - gab er auch an, Saturn sei ein Ahnherr, auf der Flucht vor Jupiter habe er im Lande Latium einen Sohn Tabarum gezeugt, das stehe so bei Pausanias geschrieben. Das ist bereits Hohe Schule der Flunkerei. Hier improvisierte der große Improvisator sein eigenes Leben. Der graue Filz, den er abendlich trug, zu formen nach dem Augenblick, es war der Hut Saturns. Holzschwert und Neptunsbart, langes Silberhaar und tiefe Blässe des Gesichtes vervollständigten die Maske. Das Kostüm war meist Bluse, weite Hose und Mantel aus weißer Leinwand. Niemals, auch bei den derbsten Witzen, so wird berichtet, bewegte ein Lächeln die Würde des blassen Gesichtes. Mondor, der 1619 in Paris auftauchte, wurde von einem doctor medicinae, Mr.de Courval, angegriffen, und Tabarin trat vor Gericht für die Heilmittel dieses Scharlatans ein. Auf der Bühne aber griff er „le maitre" an; diese Dialoge, aus Frage und Antwort bestehend, wie auf allen primitiven Stegreifbühnen, entzückten das Publikum. Mondor agierte sich selbst mit seinen steifen Bewegungen und der gelehrten Sprache. Den Hintergrund der Bühne bildete ein Wandteppich, das Ensemble bestand aus fünf Personen. Ein Geigenspieler, ein Musikant mit der alten sechssaitigen Kniegeige und ein Page, der dem lachenden und kauflustig gemachten Publikum die Fläschchen und Töpfe herumreichen musste, die Mondor in den Pausen und während des Theaters anpries, wirkten neben Mondor und Tabarin (s. Titelbild).
Tabarin verleugnete zwar Saturn durch sein Gehaben, niemals aber verleugnete er Frankreich. Er ist eine spezifisch französische Figur, Erlebtes, Gesehenes, Beobachtetes mit Grazie zur Kunst gestaltend und ebenso gerissen wie man für dieses Leben sein muß, nicht mehr. Was den deutschen wie den italienischen Scharlatanen zu fehlen scheint, Tabarin hat es besessen: Selbstironie.

III. Fälscher der Meinung

„ Der Meinende „, so sagt Thomas von Aquino, „ ist von innerem Widerspruch keineswegs frei. Noch fürchtet er Unrecht zu haben. Er bangt, daß der andere Recht hat, um so mehr will er Recht behalten". Wenn diese Worte auch zeitlose Gültigkeit haben, so scheinen sie doch besonders zutreffend für jene Jahrhunderte, denen durch zahlreiche Entdeckungen und die schnelle Entwicklung der Wissenschaften zuviel an neuem Wissen zugemutet worden ist. Neben der noch mangelnden Sicherheit des Gemeinten (der Wissenschaft selbst) stand das Mißtrauen der großen Masse der Meinenden, die zwar sich einem objektiven Fürwahrhalten des Neuen nicht verschließen konnte, der aber die Sicherheit der Überzeugung fehlte. Hier setzten die Künstler der Meinungsfälschung ein. Die mangelnde Sicherheit wurde durch ihre geheimnisvollen Reden, die von der nüchternen Wissenschaft weg zur pittoresken Scheinwissenschaft führen sollten, in jene haltlose Unsicherheit verwandelt, in der die menschliche Seele Scharlatanerien jeder Art so zugänglich ist. „Parole artihciose" sagt die Definition der Crusca von den Worten der Scharlatane. Artificioso heißt künstlich und heißt auch schlau und falsch. Künstlich, nämlich, und gefälscht ist dasselbe, so sagt man z.B. falsche oder künstliche Steine. Mit Wortfälschung beginnt die Meinungsfälschung. In allen beschreibenden oder kritischen zeitgenössischen Berichten wird von den viele Stunden dauernden, wiederholungsreichen Reden der Scharlatane gesprochen, die die Menschen in eine Art Trance versetzten, in der sie bereit waren, sich allen Kuren zu unterziehen und die für unser Gefühl aus widerlichsten Ingredienzien bestehenden Medikamente zu schlucken. All diese Budenredner sind glänzende Menschenkenner gewesen.
Ist die Verbindung des Scharlatans mit dem Theater nur als wirksame Werbung zu werten, so fällt der Prunk, mit dem sich die Scharlatane umgaben, ihr Erscheinen auf reich gezäumen Pferden oder in vornehmen, nachtschwarzen Kaleschen schon in ein ganz anderes Gebiet. Dieses Gebiet ist noch deutlicher gekennzeichnet, wenn wir sagen, daß das Geldnehmen für geleistete Dienste nicht nur nicht zugegeben, sondern abgeleugnet wurde. Man verzichtete auf Honorare, man war Wohltäter der leidenden Menschheit, nur ihr wollte man dienen. Das war zu lesen auf den Flugblättern mit den Ankündigungen all der bereits erfolgreich durchgeführten Kuren und Operationen des Wundermannes, die auch namentlich angeführte Große der Welt bescheinigten. All dies war viel mehr Theater als die Hanswurstszene, aber damit ist erst bewiesen, daß die Quacksalber verstanden, der Menge zu imponieren. Das spezifisch Scharlataneske kommt erst durch den Trick hinzu, die Menge sich selbst imponieren zu lassen, ihr Bewußtsein zu wecken und es gleichzeitig zu verfälschen. Denn hat der Scharlatan etwa einen neuen Heiltrank entdeckt, dann wendet er sich nicht an Männer vom Fach, an Ärzte, um sie urteilen zu lassen. Nein, er ruft die geschmeichelte Menge auf und verleibt ihr, indem er sie befragt, den Schein von etwas, was sie nicht besitzt: medizinische Autorität.
Johann Andreas Eisenbarth (1661-1727), den Deutschen zum Begriff geworden wie Tabarin den Franzosen, war nicht nur, wie sein Bild vermuten läßt, ein gescheiter Mann und wie zeitgenössische Urteile bekräftigen, ein guter Operateur, sondern vor allem ein Genie der Propaganda. Handel mit Parfumeriewaren oder Amuletten hat er nie betrieben, er ist ein Mediziner, der nicht fertig studiert hat. Er soll in Viechtach bei Regensburg geboren sein und ist in München gestorben. Ausgebildet wurde er bei dem privilegierten Okulisten Biller in Bamberg, 1686 prüfte ihn in Altenburg der fürstliche Leibarzt Dr. Klander. Es wurde ihm bescheinigt, daß er, was Augenkuren, Stein-, Krebs- und Bruchschneiden betrifft, zur Genüge erfahren sei. Für diese Spezialgebiete erhielt er ein Privileg, Kuren durfte er nicht ausführen, Apothekerwaren nicht feilhalten. Wir wissen, daß Eisenbarth großen Zulauf hatte, ein wohlhabender Mann war, der Wagen, Pferde und ein stattliches Haus besaß, einen Sekretär und reichlich sonstiges Personal beschäftigte und vom Kurfürsten von Hannover 4200 Taler Jahresgehalt zugesichert erhalten hat. Viel mehr als diese Tatsachen sagen aber Eisenbarths Reklamezettel über ihn aus, und sie mögen zu dem bekannten Liede Anlaß gegeben haben, das sonst wenig mit Eisenbarths wirklicher Gestalt zu tun hat. Diese Reklamezettel sandte der Doktor Eisenbarth, der keinen Doktorgrad erworben hatte, in die Städte voraus, in denen er seine Bude aufzuschlagen gedachte, und erwies sich so als eine Art Zeitungsverleger in eigener Regie. Er kannte die Macht der Ziffern. 30 Jahre praktizierte nun der hochberühmte Medikus, 1000 Blasensteine und 2000 Kröpfe habe er in diesen 30 Jahren operiert, so stand zu lesen. Er wußte auch, wie sehr Titel wirken, besonders auf seine Landsleute, und er kaufte sich 1717 den Hofratstitel für 200 Taler. „ Der berühmte Zahnarzt etc. Eysenbarth ist Hoffrath worden" las man in der geschriebenen Berlinischen Zeitung, und der Autor setzte hinzu, daß Eysenbarth „hievon profitieren wolle". Er verstand, und das war völlig neu, sich der Zeitung zu Reklamezwecken zu bedienen, und in der Vossischen Zeitung von 1724 kann man unter andern Anpreisungen seiner Fähigkeiten das Lob seines wunderwirkenden und doch rechtwohlfeilen Haupt-, Augen- und Gedächtnis-Spiritus finden. Am meisten aber erfährt man über Eisenbarth aus einem grotesken Skandal, dessen zufälliger Gegenstand er 1704 in Wetzlar, wo sich das Kammergericht befand, wurde. Zwei wegen hochpolitischer Gründe verfeindete Parteien gerieten einander in die Haare, als Eisenbarth seine Bude auf dem Markt aufgeschlagen hatte. Von der einen Partei wurde gegen die andere, erlaubnisgebende, Anklage erhoben. Bemüht wurde - der Kaiser selbst. „ Allergnädigster Kayser, und Herr Herr „, schreibt der „Allerunterthänigster Treu-gehorsamster Friedrich Ernst Graff zu Solms: ... als an welchen Tag ein Jahr-Marckt allhier gewesen, auffgerichtet sich befunden, worauff ein Marck Schreyer nicht nur Artzney verkaufft hätte, sondern auch fast alle Tage Comoedien daselbst gespielet, und auf dem Seil getantzet worden wäre, ja es seye bey der ersten Comoedie oder Schau-Spiel ein Gerichts-Proceß, und andere dergleichen Dinge, vorgestellet worden, dabey der Richter mit einem Scepter gesessen, sich corrumpieren lassen, mit dem Harlequin den Richter-Stubl und Kleydung verwechselt, und endlich den Harlequin zu hencken, das Urthel gefällt ..." Aus der Antwort der Gegenpartei: „ ... übrigens pflegen ja alle Ärzten und Marckschreyer dergleichen zu thun um die Leute desto füglicher an sich zu bringen ...". Eisenbarth versteht als echtes Propagandatalent sogar in seinem Rechtfertigungsschreiben Reklame für sich zu machen: "Ich Johann Andreas Eysenbarth, Kayserlicher- auch verschiedner Chor- und Fürsten hoch privilegierter Medicus und Operator, thue hiemit bekennen und attestieren, daß ohnlängstens meine 2 Diener von Cassel anhero nach Wetzlar auf Johannis Jahr-Marck alda der Gewohnheit nach meine Profession armer Patienten zu Trost zu exercieren, abgeschicket... " Man sieht, auch Eisenbarth will nichts als Trost spenden, auch er ist Wohltäter der Menschheit, die er kuriert, die er ... verführt.

I V. Das Jahrhundert der Scharlatane

Das 18. Jahrhundert hat wie kein anderes Existenz und Erfolg des Scharlatans begünstigt. Es ist nicht so sehr die Volksausgabe des Marktschreiers, als die Luxusausgabe des Grandseigneurs, des reisenden Weltbürgers, die das Dixhuitieme geprägt hat. Die ideengeschichtlichen Gründe darzulegen, die den Widerspruch der Gleichzeitigkeit von Aufklärung und Goldmachen, von Voltaire und Cagliostro erklären, würde weit über den Rahmen dieser Ausführungen gehen. Dennoch ist es unerläßlich zum Verständnis all der Gestalten, die wir hier zeigen, den zeitgeschichtlichen Hintergrund kurz zu beleuchten.

Das 17. Jahrhundert war das Zeitalter der Systeme, das 18. entwickelte sich vom System zum Experiment, von Deduktion zu Induktion. Das 17. Jahrhundert kannte nur einen Ausdruck für einen Gedanken, das 18. drückte ein und denselben Gedanken in den verschiedensten Prägungen aus. Experiment und unfaßbarer, weil nicht eindeutiger Ausdruck: hier sind schon zwei wichtige Momente zur Zerstörung der inneren Sicherheit. Die Relativierung der Begriffe, die mit Montesquieu eingesetzt hatte, zog Wissen und Religiosität mit auf diesen schwankenden Boden. Der Glaube war durch den empirischen Pessimismus des 17. Jahrhunderts nicht mehr Tröster, sondern Mahnung an Tod und Vergänglichkeit geworden, Spiegelbild der Ewigkeit die Hölle. Das Ventil der Metaphysik aber, nach dem die menschliche Seele als Ausgleich dieser Jenseitsdrohung verlangte, wurde im 18. Jahrhundert durch die starke Wirkung des Rousseau'schen Pan-Moralismus unmöglich gemacht. Mit Länder- und Rohstofferschliessung und -einfuhr, Aufblühen der Manufakturen etc. wurden Bedürfnisse geschaffen, das Lebensniveau verfeinert, die Nerven durch Luxus und Vergnügen stärker beansprucht. Resultat: das Jahrhundert der Aufklärung, das alles verstehen wollte und alles verstand, verfiel der Macht der Scharlatane mindestens ebenso stark wie die Renaissance, die das Unverständliche, das Lächeln der Mona Lisa, bewundert hat. Es verfiel dieser Macht deshalb noch stärker als sie, weil es auch die Todessicherheit verloren hatte, die Leonardo da Vinci für seine Zeit so formuliert hat: „Wie ein gut verbrachter Tag einen freudigen Schlaf erzeugt, so zieht auch ein gut verbrachtes Leben einen freudigen Tod nach sich." Das Leben gut verbringen, das wollte man auch, aber ohne Verantwortlichkeit vor dem Tode. Das Schafott stand als Fatum am Horizont der Zukunft, der Moralismus als häßlicher Mahner in der so lustreichen Gegenwart. Reaktion gegen Zukunftsdrohung und Gegenwartsmahnung wird durch Flucht in die Vergangenheit vollzogen. Diese übersinnliche Vergangenheit personifizierte der Scharlatan, sein Alter, das nach Jahrhunderten zählte und seine mystische Herkunft. Jetzt gab er mit dem Gold nicht mehr nur Reichtum, er gab auch Aufstieg in eine andere Klasse, was das erwachende Bewußtsein stürmisch ergriff; jetzt gab er mit der Universalmedizin nicht mehr nur Krankheitsheilung, er gab auch gesteigerte, raffiniertere Fähigkeit zum Lebensgenuß und verlängerte das Leben, so der Todesfurcht Aufschub gewährend. So wurde er zur Sensation, zur Mode, und wie die Mode so beherrschte auch der Scharlatan diese Zeit. Gewiß gab es auch Menschen, die die Ursachen der Modekrankheit durchschauten, wir zitieren einen wenig bekannten Artikel Hufelands „Über die neuesten Modearzneyen und Charlatanerien", der Oktober 1789 in Bertuchs „Journal des Luxus und der Moden" erschien, was der Autor folgendermaßen begründet: „Das Journal der Moden ist ohnstreitig der schicklichste Ort, wo man von Zeit zu Zeit dem Publikum die neuesten und gangbarsten Modeartikel für Gesundheit, Schönheit, langes Leben und dergl. wird mittheilen können." Hufeland berührt das verfälschende Moment der Popularität: „ Wir leben in den Zeiten der Popularität, und selbst die ernsthaftesten Wissenschaften haben jetzt so gut ihre pedantische Mine ablegen und sich in ein gefälliges Modegewand kleiden gelernt, daß ihnen in keiner Damengesellschaft mehr der Zutritt verwehrt wird. Sie haben sich wirklich unentbehrlich gemacht und wo ist noch ein Zirkel von gutem Ton, in dem man nicht von Elementar-Feuer, Magnetismus, Elektrizität, den Ursachen der Dinge, ja von den abstraktesten Gegenständen der Metaphysik, mit einer Leichtigkeit und einem Interesse sprechen höret, die in Erstaunen setzen. Die Medizin war eine der ersten, die die Ehre hatte in Cours zu kommen."
Die magnetischen Heilsysteme, die sich um Franz Mesmer und den tierischen Magnetismus entwickelten und durch die Namen Johann Gassners und Schrepfers gekennzeichnet sind, waren längst nicht mehr Mode, als Hufeland diese Zeilen schrieb. Sie gehören nicht ganz zum Thema Scharlatane, da sie, wenn auch gauklerisch, ihr Gut von Mesmer borgten, und Mesmerismus in ein anderes Gebiet fällt. Wohl aber zeitigte die Auswertung durch manchen Anhänger des Magnetismus seltsame, echt scharlataneske Blüten. Ein schottischer Arzt, Dr. James Graham, der Ende des 18. Jahrhunderts in London lebte und magnetische Wasser und Pulver zahlreich verkaufte, hatte ein magnetisches Bett zur Heilung aller Krankheiten aufgestellt, dessen Benutzung nur nach vorheriger Anmeldung und Einsendung von 50 Pfund gestattet wurde. Man pilgerte in Massen zu diesem Wunderbett, von dem eine zeitgenössische Beschreibung des „Gesundheitstempels" folgendes zu sagen weiß: „Das Bett stand in einem prächtigen Zimmer, wohin aus einem benachbarten Cabinet ein Cylinder führte, durch welchen die heilenden Ströme in das Schlafzimmer geleitet wurden, sowie auch sonst allerhand Wohlgerüche stärkender Arzneien und morgenländischer Rauchwerke durch gläserne Röhren dahin geführt wurden. Das himmlische Bette selbst ruhte auf sechs festen durchscheinenden Säulen, die Betttücher von Purpur und himmelblauem Atlas waren über Matratzen, mit arabischen und morgenländischen Riechwassern durchdrungen, gebreitet und zwar im Geschmack des persischen Hofes. Das Zimmer, in welchem es war, nannte er sanctum sanctorum ... Zu diesem allen kommen noch die melodischen Töne der Harmonika, sanfte Flöten, angenehme Stimmen und eine große Orgel. Er sagte mit Recht, nichts gäbe den angegriffenen Nerven alle ihre Kräfte erstaunungswürdiger wieder, als dieses himmlische Bette. Der offenbar für die raffinierten Bedürfnisse der Vornehmen arbeitende Scharlatan war auch Erhnder von Erdbädern; die Poren der Haut sollten Nahrungssäfte der Erde einsaugen und so sollte man „ohne Essen ein gesundes und langes Leben" führen können.

 

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Von dem populären Wunderglauben an magnetische und elektrische Ströme profitierte der Schweizer Michael Schüppach, der Naturbursche unter den Scharlatanen. Er wurde 1707 im Kanton Bern geboren und zeigte in früher Jugend naturwissenschaftlich-medizinische Neigungen. Das teure Universitätsstudium konnten seine Eltern nicht bezahlen und so wurde er zu einem Dorfarzt in die Lehre gegeben. Er probierte die Rezepte der Kräuterbücher aus, zeigte viel Interesse fürs Sezieren und kaufte sich, sowie er selbst verdiente, anatomische Bücher. Sehr früh begann er genauest die Krankengeschichten seiner Patienten aufzuschreiben. Schüppach bewies viel Ernst beim Studium und ist nicht durchaus als Scharlatan zu bezeichnen, erst seine Erfolge, die ihm über den Kopf wuchsen, scheinen ihn zu echten Scharlatanerien, wie Fernbehandlungen, verführt zu haben. Er gehört nicht zu den großen Reisenden, sondern der Doktor in Langnau im Emmental wurde zum Kuriosum, das alle Fremden, die die Schweiz bereisten, gesehen haben wollten. 1799 besuchte ihn Goethe, der für diese Art Menschen immer viel Interesse gezeigt hat, und berichtet an Frau von Stein: „ ... doch ist sein Auge das gegenwärtigste, das ich glaube gesehen zu haben. Blau, offen, verstehend, ohne Anstrengung boobachtend." Da Schüppach Mode war, fand man im Langnauer Gästebuch Namen berühmter Gelehrter, neben Prinzessinnen. Natürlich fehlte auch der Kardinal Rohan nicht, der später einem viel größeren Scharlatan, Cagliostro, ins Garn gehen sollte. Auf allen Porträts von Schüppach sieht man ihn mit dem Uringlas. Während er nämlich den Patienten befragte und, wie seine Gegner behaupteten, ihn mit einem Auge beobachtete, blickte er unverwandt auf das Glas und gab vor, Diagnose und Therapie in der Flüssigkeit zu erschauen. In der Glanzzeit dieses „Wunderarztes" drängten sich täglich 80-100 Patienten in seine „Apotheke", in der Medizin mit deutschen Aufschriften wie „Freudenöl", „Blümlisherz", „fürs Untier" zu finden waren, Namen, mit denen zu Michaels Freude, die Lateiner und richtigen Ärzte nichts anzufangen wußten. 80 und mehr Boten mit Uringläsern trafen täglich in Langnau ein, Arm und Reich pilgerte zum „Schärermicheli". Von seinen Behandlungsmethoden wurden manche Anekdoten erzählt. Einen reichen Bauern, der behauptete von sieben Teufeln besessen zu sein, heilte er durch starke elektrische Schläge, bei denen er sich anstellte, als sähe er die Teufel aus dem erkrankten Leib fahren. Einem andern Bauern, der sich eingebildet hatte, einen Heuwagen mit Fuhrmann verschluckt zu haben, horchte er ab und versicherte, das Peitschenknallen im Bauche zu vernehmen. Dann bekam der Patient Brechund Schlafmittel und flugs wurde ein echter Heuwagen bestellt. Als der Kranke erwachte und erbrach, fuhr der Kutscher mit Peitschenknallen davon. Michael aber hatte natürlich durch seine Kunst den Bauern Heuwagen erbrechen lassen. Man sieht, Wissensfälschung hat er schon betrieben. Eine Beschreibung des Züricher Professors Leonhard Meister vom „Taubenschlag" des Michael und seiner schönen Frau und Gehilfin zeigt, daß auch das Theater als Lockmittel nicht ganz fehlte: „ ... Man steht oder man sitzt zusammen, man spielt Karten, bald mit einem Mädchen; bald wird ein Konzert, bald ein Frühstück oder Abendessen gegeben, bald ein kleines Balett gehalten. Uberall wird sehr glücklich die Freiheit der Natur mit den Ergötzungen der schönen Welt vereinigt und wenn der Arzt keine Krankheit zu heilen imstande ist, so heilt er doch Hypochonder und Vapeurs." 1781 starb Schüppach, reich und hochgeehrt, betrauert von seinen entzückten Besuchern, in schwärmerischen Versen von Lavater besungen.
Weder Graham, noch Schüppach gehören zu jener Kategorie von Scharlatanen, die unauf hörlich auf der Wanderschaft, bald im Glanze fürstlicher Gunst, bald in Elend untertauchend, in ständigem Wandel von Namen und Gestalt im 18. Jahrhundert durch ganz Europa zogen. Deren Pläne waren groß angelegt und sie haben nichts mehr mit den Quacksalbern der Märkte gemein. Charakteristisch ist, daß sie fast immer in die Politik verwickelt sind, wollten sie doch ganze Völker mit Wohlstand beglücken und nicht mehr nur ein Einzelschicksal vergolden. Tiepolo zeigt den Ciurmator (ciurmare = Zaubertränke bereiten, zaubern), der über dem typischen Arzneikoffer auf einer Art Prozessionsfahne sein eigenes Bild ausstellt. Das geheimnisvolle und geheimnislüsterne Maskengetriebe, die mediumistische weiße Frau im Zentrum, das Seiltänzerplakat und der fähnchenschwingende Harlekin - da ist all das vereinigt, was Scharlatane und ihr Treiben zeichnet. Der Höhepunkt in der Kunst der Massenbezauberung und der Schamlosigkeit war nun erreicht: werbende Schaustellung der eigenen Gesichtszüge, des eigenen Wesens: das war die Methode der klassischen Abenteurer.
Der klügste und feinste der drei klassischen Abenteurer ist der Graf von St. Germain gewesen. Er stand im Ruf fabelhaften Reichtums. „Der berühmte Alchemist" wird er auf dem einzigen Porträt genannt, das wir kennen, und das wirklich ein zeitloses und hintergründiges Gesicht zeigt. Woher der Graf stammte, weiß man nicht, es heißt aus Portugal, aber nichts beweist das. Er selbst erzählte gern, daß er mit den Gästen der Hochzeit von Kana zu Tisch gesessen. Dann wieder wollte er aus dem spanischen Königshause oder von den Fürsten Rakoczy abstammen. Seine Anekdoten sprangen munter durch die Jahrhunderte, stellte ihn ein Zweifler mit Fragen, so bedeutete er ihm, daß er sich von Zeit zu Zeit aus dem Treiben der Welt zurückzöge, sich also nicht an alles erinnern könne. Er beherrschte zahlreiche Sprachen und reiste durch Länder, wie durch Jahrhunderte, Zerrbild des Wanderers zwischen den Welten. Dabei wechselte er ständig den Namen, hieß Marquis de la Croix noire, Graf Surmont, auch Graf Welldone (Wohltäter). Gelegentlich beschäftigte er sich mit Bilderfälschung, was in allen Zeiten Scharlatane magisch angezogen hat. „Ein Narr, der wundervoll singt, spielt und geigt", sagt Horace Walpole von ihm. Ubrigens ist bezeugt, daß er bei streng geregelter Lebensweise noch in hohem Alter wie ein 50 jähriger aussah. 1735 ist sein Aufenthalt im Haag nachweisbar, 1744 in England, I759 war er in Frankreich, gewann durch sein Verjüngungswasser die Gunst der Pompadour und spielte dann eine mysteriöse Rolle bei den Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und England. Der Herzog von Choiseul brach seinen Einfluß, worauf der Abenteurer verschwand, man weiß durch Jahre nichts von ihm, dann tauchte er in Rußland, Italien, Deutschland auf, sehr heruntergekommen, und starb 1784 in Eckernförde. Ärztlich hat er sich kaum betätigt, er interessierte sich mehr für Produktion und Absatz von Heilmitteln. Immerhin braute er ein kostspieliges Lebenselixier, den noch heute als St.Germain-Tee verbreiteten Abführtee. Er besteht aus Sennesblättern. St.Germain ist vor allem interessant durch seine Mythologisierung der Industrie. Aus seinen alchimistischen Kenntnissen schöpfte er Rezepte für Geheimverfahren in der erwachenden Seiden-, Porzellan- und Farbindustrie, auch für Weinveredlung fand er ein Verfahren. Minister und Bankleute kauften ihm seine Geheimnisse für viel Geld ab. Natürlich besaß er auch Rezepte zum Goldmachen und für eine Universalmedizin, und was für gute Geschäfte man mit dieser damals machen konnte, wird einem klar, wenn man einen Berliner Zeitungsbericht von 1779 liest: „In London schrieb ein Chymikus ohnlängst ein langes und breites von einer Universalmedicin, welche er erfunden zu haben vorgab, und reichte seine Schrift versiegelt im Oberhaus des Parlaments ein. Die jungen Lords meinten sämtlich, daß man diese Sache ans Unterhaus weisen, und sich nur Bericht davon müsse abstatten lassen, allein die älteren waren der Meynung, eine so wichtige Entdeckung verdiente wohl, daß man sich damit beschäftige, und es sey der Müh wert sichs etwas sauer werden zu lassen, wenn man dadurch I50 Jahre alt werden könne."
Casanova, der zweite der drei großen Abenteurer, gab sich mit dem medizinischen Kleinkram nicht ab, durchschaute und verachtete den dritten, Cagliostro, der sich aber als Wunderdoktor nur vor und nach seiner wirklich großen Zeit betätigt hat. Beppo Balsamo, später Graf Cagliostro, ist 1743 in Palermo geboren, er kam aus proletarischem Milieu. Er betätigte sich u.a. als Schatzgräber in Meereshöhlen, half in einer Klosterapotheke, wo er seine ersten medizinischen Kenntnisse erwarb. Flucht vor Verhaftung war bei ihm, der in ständigen Händeln mit Polizei und Gönnern lebte, der erste Reiseimpuls. In Messina und Malta lernte er prominente Alchimisten kennen, die ihn in ihre Geheimnisse einweibten. Cagliostro hat das später nach Zeitgeschmack umredigiert und er, der dicke plattnasige Held der sizilianischen Gosse, wurde zum unglücklichen Sohn des letzten Herrschers von Trapezunt, der in die Verbannung fliehen mußte, von einem edlen Sheriff erzogen wurde, der ihn „unglückliches Kind der Natur" taufte, später erst traf das unglückliche Kind mit dem Hohen Priester aller arkanischen Weisheit, Althotas, zusammen, der sein Lehrer wurde, den er, was man nur diskret andeutete, ermorden mußte. In Wahrheit mußte Cagliostro nach Fälschung eines Oberstenpatentes wieder einmal fliehen, wurde aber bereits von seiner schönen Frau und begabten Mitverschworenen, Lorenza Feliciani, Tochter eines römischen Handschuhmachers, begleitet. Er schlug sich durch, hatte Erfolge, schwindelte, mußte wieder fliehen, so wechselte die Szene zwischen London, Paris, Deutschland, Italien. Leichtgläubige Gönner waren immer wieder als Retter zur Stelle. Sein zweiter Londoner Aufenthalt brachte den großen Coup. Er drang frech in die Freimaurerlogen, erwarb sich Anhänger und gelangte zu großem Ruhm. Jetzt war er Graf Cagliostro, der Lakaien, Kuriere und Kammerdiener beschäftigte. In diskreter schwarzer Kutsche mit mattgoldenem Monogramm, ein Reklamemittel, das schon Eisenbarth erkannt hatte, fuhr er umjubelt in die Städte, aus denen er dann bei Nacht und Nebel floh. London, Brüssel, Haag, Kurland war die Route. Aus Mitau haben wir die entlarvenden Aufzeichnungen der Freiin von der Recke. Er besuchte Rußland, Deutschland und traf dann in Strassburg mit dem Kardinal Rohan zusammen, den er später in die Halsbandaffäre verwickelte. Diesen Gönner wußte er vollkommen zu bezaubern. In Lyon gründete er, da ihm die erwachende Skepsis der Freimaurer unerwünscht war, 1784 eine neue ägyptische Loge „eigener Observanz „ und zog 1785 triumphal in Paris ein. Im Laufe der Halsbandaffäre, die wenige Jahre später Cagliostros Pariser Triumphen ein Ende bereitet hat, wurde er gefangengesetzt, die Gegner Marie Antoinettes erwirkten aber seine Freilassung, er floh nach London, dann nach Basel, Turin, sein letztes bescheidenes Auftreten als Wunderdoktor ist in Trient und Rovereto nachweisbar, I789 kehrte er nach Rom heim. Not trieb ihn, seine altenPraktiken wieder aufzunehmen, jetzt aber ergriff ihn die Inquisition, machte ihm den Prozeß und verurteilte ihn zu lebenslänglichem Kerker. 1795 starb er. Cagliostro, der gröbste der drei klassischen Abenteurer, ein Urkundenfälscher,Taschenspieler, Quacksalber,Geisterbeschwörer und Kuppler, hat die grösste Macht über seine Zeitgenossen gehabt, er war der populärste. Wir wissen, daß Goethe, Tieck, Dumas ihn zum Helden von Dichtungen gemacht haben. Döschen, Pendulen und Fächer, die sein Bild tragen, beweisen jenen Höchstgrad an Massenwirkung, der sich in allen Zeiten dadurch dokumentiert, daß Bild und Legende des Helden ins Kunstgewerbe eingeht. Vielleicht erklärt sich der Zauber von Cagliostros Wirkung zum Teil daraus, daß der zwar schlaue, aber halbgebildete und kritiklose Mann manchmal seiner eigenen Suggestion unterlag und soweit kam, zu glauben, was er sagte. Er hatte echte und unberechnende Momente, in denen er jenem Durcheinander verschiedener Wirklichkeitsbilder verfiel, von dem wir als charakteristisch für die Renaissancemenschen sprachen. In solchen Augenblicken mag er überzeugt haben. Auf dem Fächer, den wir zeigen, sieht man links die Abreise Cagliostros auf der Gondel aus seiner magischen Heimat. Er ist morgenländisch gekleidet. Die Phantasie einer Zeit, die wie das Dixhuitieme für persische Motive (Montesquieu: Lettres persanes) und für Chinoiserie schwärmte, sah ihre Scharlatane natürlich am liebsten in exotischen Gewändern. In der Mitte des Fächers die Porträts Cagliostros und Lorenzas, rechts eine Kranke auf einer Bahre, eine andere Frau, die die Hände des heilenden Wohltäters küßt. Die Verse unter den Bildern lauten:

Il prolonge la vie, il secourt l'indigence,

Le plaisir d'etre utile, est seul sa recompence.

(Er verlängert das Leben, er steht den Dürftigen bei, die Freude zu helfen, ist seine einzige Belohnung.)

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Hier haben wir die Hauptattraktion seiner Werbung: er behandelte umsonst, er behauptete das wenigstens. Sehr gut verstand er dann, auf andere Weise doch Geld von den Geprellten zu erhalten. Elisa von der Recke erzählt über sein ärztliches Auftreten folgendes:
„Von seinem Aufenthalt in Strassburg weiß ich folgendes: Er logierte einige Zeit in einem Gasthofe; noch zeigte er sich nicht im geringsten als Arzt. Niemand erwartete das auch von einem Grafen. Plötzlich erfuhr man, es sei ein fremder, wohltätiger Herr hier, der Kranke umsonst übernehme und ihnen nicht nur Arzneien, sondern selbst oft Geld und noch andere Unterstützungen zukommen ließe; und dies ist die Wahrheit. Nun kamen nach und nach und noch schüchtern einige Arme zu ihm; er empfing sie liebreich, gab ihnen Essenzen, Elexiere, andere Arzneien, befreite manchen vom Fieber und anderen Zufällen, besuchte selbst auch manche Schwerkranke in ihrer Behausung. Sein Ruf stieg, und bald waren nicht nur seine Zimmcr, sondern auch die Treppen und Haustüre mit Hilfsbegierigen besetzt. Er war etwas leicht und zuversichtlich im Versprechen dcr Heilung, und dies gab allen Preßhaften umso mehr Mut. Freilich sind ihm nun bei der Menge von Kuren viele verunglückt, besonders bei Taub- und Blindheit; allein Glück in manchen Fällen, das Fremde, das Sonderbare, das Unentgeltliche machten ihn dennoch zum Gegenstand der höchsten Bewunderung.... Eine unglaubliche Menge von Fremden kamen von allen Orten her zu ihm; verschiedene baten ihn, mit einigen unserer besten Ärzte in Konsultationen sich einzulassen: dies schlug er immer ab, wie er denn auch für alle Ärzte keine anderen Benennungen kennt, als solche, die aus dem Tierreich entlehnt sind; ... doch haben manche Kranke, auch Fremde, sich von Cagliostro weg wieder in die Arme der ordentlichen Ärzte geworfen.... Er pflegt z.B. sehr häuhg den Extrait de Saturne und zwar in sehr großen Dosen (wie überhaupt seine Medizinen) zu verordnen; man hat gezeigt, daß dieser Bleizucker zwar im Augenblick von guter Wirkung sei, bei Wunden und anderen Zufällen, wo schleunig Hilfe nötig ist, daß er aber auch oft eine gewisse Steifheit zurücklasse und innerlich gebraucht, nicht selten die unglückliche Colique de Poitou zurücklasse."
Uber die Qualität von Cagliostros Medikamenten hören wir am besten Hufeland in dem oben zitierten Artikel:
„ ... Die Hauptmittel sind: die weißen Tropfen, die gelben Tropfen, der Lebensbalsam, das abfahrende Pulvcr, ein neuer Schnupftabak, egyptische Magenpillen, eine neue Rindfleischbouillon, womit alle diese Mittel zu nehmen sind. Wir besitzen von allen die Rezepte, sie sind aber alle so widersinniger Composition, daß man Verordnungen aus dem sechzehnten Jahrhunderte zu lesen glaubt, und, daß sie gewiß nur in Cagliostros Händen Wunder thun können. Wenigstens die egyptischen Pillen, die eine Zeit lang in Paris angebetet wurden, und die noch vom uralten Hermes Trismegistos abstammen sollten, mögen als der beste Beweis der elenden Scharlatanerien dieses Menschen da stehen:
Nehmt: Aloe, Diargidium, Turbith, Agarikus, Koloquinern, von jedem ein Quent; Mastix, Rhabarber, Mitabelanen, Fenchelsaamen, Zimmt, Muskatblumen, Xylobalsam, Narden, von jedem ein halb Quent. Alles fein gepulvert und mit altem weißen Wein, Stöchassyrup und Zimtwasser zu Pillen gemacht, deren zwey bis scchs Stück auf einmal zu nehmen."
Auch zugunsten seiner medizinischen Autorität wußte Cagliostro den Nimbus seiner Vergangenheit wirken zu lassen. Er erzählte, daß er zu Medina die Medizin studiert habe und „freilich daselbst anders die Natur kennen gelernt, als unsere europäischen Ärzte". Diese hasste er, und in London hat er einmal einem Arzt, der seine Schwindeleien entlarvte, ein Duell vorgeschlagen. Er wollte einen Trank bereiten, von dem sie beide trinken sollten, wer am Leben bleiben würde, sei der Sieger. Seine Arzneien präparierte Cagliostro nach alter alchimistischer Tradition zur Zeit des Äquinoctiums. Als Cagliostro nach dem Halsbandprozeß aus der Haft entlassen wurde, ließ er vor seinem Wagen, der ihn an der Bastille erwartete, einen Krüppel herlaufen, derMedizinflaschen an die Armen verteilte. Eine Geste, die in dem aufgewühlten, gärenden Paris von außerordentlicher Wirkung war. Cagliostros bedeutendste, schreibende Kritiker waren Mirabeau und die Kaiserin Katharina von Rußland, die ihn nicht nur aus ihrem Land weisen ließ, sondern ihn noch in zwei Lustspielen entlarvte, die wieder der unentwegte Kämpfer gegen alle Scharlatanerien, der Berliner Schriftsteller und Buchhändler Christoph Friedrich Nicolai, veröffentlichte. Aber was vermochten diese Einzelnen gegen einen Mann, der imstande war - ein zeitgenössischer Stich zeigt es - seinen Besucherinnen auf Grund kabalistischer Kenntnisse, die Nummern zu nennen, die in der Lotterie zuverlässig gezogen werden würden.
Eine Cagliostrokopie wollte in Pommern zu Ende des 18. Jahrhunderts Magno Cavallo (das große Pferd) sein, Mursa dux Tartarus, Philosopho - Medicus- Botanicus- Chymicus- Pharmaceuticos- Poeta- Propheta-Lama Lamorum Pontifex-pontihcum, wie er sich ganz bescheiden nannte. In türkischem Kostüm mit Säbel und Muff befuhr er in der Gondel die Flüsse Pommerns. Seine wunderärztliche Tätigkeit beschränkte sich auf Entdeckung und Propagierung der heilkräftigen Quellen von Bad Kenz (Pommern). Er hat Spielbanken und Wahrsageboden betrieben, gelegentlich auch politische Exposes verfaBt (anlässlich der Reichenbacher Konvention zwischen Österreich und Preußen, I790). Die Städte seiner Wirksamkeit waren Braunschweig und Celle; zu internationalem Ruf ist er nie gelangt.
Unter den betrügerischen Starstechern war der Engländer John Taylor (1708 - 1772), auch Ritter Taylor genannt, der imposanteste Schwindler. Auf seinen vielen Reisen, die ihn die halbe Welt sehen ließen, kam er auch nach Basel, wo er promovierte und in das medizinische Doktorenkollegium aufgenommen wurde. Taylor, dessen Zügen man Kälte, Skrupellosigkeit und Einbildung anmerkt, verstand sich glänzend auf die erforderliche Regie. Kein anderer hat das Requisit der Kutsche so einzusetzen gewußt wie er. Die seine wurde von 4 Schimmeln gezogen, sie war geschmückt mit Augenbildern und Attesten, weit sichtbar prangte vorne, einem Plakate gleich die Aufschrift: Qui visum dat, dat vitam. Wie Eisenbarth, so wirkte auch er durch seine zahlreichen Titel, die er nach Einzug in der Stadt bekanntgeben ließ. Er war ein gefährlicher Patron, der viele Menschen blind gemacht hat. Die Patienten mußten ihre Verbände drei Tage lang tragen, wenn sie sie abnahmen und ihr Unglück merkten, war er längst über alle Berge. Eine traurige Erfahrung in dieser Richtung hat 1751 der Grossherzog von Mecklenburg gemacht, und die Zeitungsstimmen vor und nach seinem Besuch weisen einen gewaltigen Umschlag von Hoffnung zu empörter Enttäuschung auf.
Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert steht die merkwürdige Gestalt des Italieners Buonafede Vitali, genannt „d'Anonimo" ( 1686 - 1745 ). Er war „ Saltimbanco„ , er hat auf öffentlichen Plätzen behandelt, er hat sich dem Theater verbunden, aber er war gleichzeitig von den Fakultäten als bedeutender Arzt anerkannt und besaß die Doktordiplome von Padua, Parma und Palermo. Gegen Ende seines Lebens war er Protomedikus von Verona. In einer Schrift „Lettera in difesa della Professione del Saltimbanco" (Milano 1732) verteidigt er einem adeligen Gönner gegenüber (es soll Scipione Maffei gewesen sein), der ihm offenbar von seinem Beruf abreden wollte, den Scharlatan. Vitali war in seiner Jugend Soldat gewesen, begann aber schon bald sein Leben als reisender Arzt. Keinerlei Reisestrapazen hat dieser Mann gescheut, um die Welt zu sehen. Er war nur in England und Mailand drei Jahre ständig, sonst trieb es ihn immer noch rascher weiter. Temperament und wissenschaftliche Uberzeugung unterschieden ihn von seinen Fachkollegen. Er war ein glänzender Redner und schlechter Schriftsteller, sein Herz gebörte Theater, Reise und Abenteuer. In dem Verteidigungsbrief betont er, daß sich viel Gesindel unter den Scharlatanen befinde, aber das sei in jedem Beruf so und entehre diesen noch lange nicht. Als das Verderben für die medizinische Wissenschaft sieht er ihr Abwenden von der Empirie an. Er distanziert die empirische Medizin vom verwerflichen Risiko des Experiments und stellt sie als die einzig wahre Medizin hin, „diese aber ist die Kunst des Saltimbanco, der, was er kann öffentlich zeigt", denn jedes anständige Gewerbe scheut die Öffentlichkeit nicht „und da die Kunst (das Können) der Medizin die wichtigste ist, scheint es mir Pflicht, sie mehr als jede andere vor den Augen des Volkos auszuüben". Er eifert gegen die Professoren, die sich in uferlosen Disputen verlieren, anstatt zuzugreifen und zu helfen und in ihren Hörsälen wie in Festungen verschanzen, um mit der Realität, die sie über ihre Irrtümer belehren könnte, gar nicht zusammenzutreffen. Hier wendet sich ein menschlicher Typus gegen den andern: „dic Professoren, denen ihre Bequemlichkeit zuviel gilt und die die Mühen der Reisen scheuen, die weder Klima- noch Luftwechsel an sich selbst erlebt haben und nicht ahnen, wie verschieden auf der Welt die Sitten sind, wie traurige Begegnungen tun und wie einem zumute ist an jenen erfolglosen Tagen, an denen die Menge mit Fingern nach einem zeigt". Von ihm, der sich selbst den Anonimo genannt hat und der sogar für seine Eltern viele Jahre lang verschollen war, gibt es kein Bild. Eine zeitgenössische Beschreibung schildert ihn, der draußen in der Welt Minen verwaltete und in der Heimat Heilquellen entdeckte, als mittelgroß, dick, stattlich aussehend, gut gefärbt und mit löwenartigen Gesichtszügen. Ein bezauberndes Porträt seiner Persönlichkeit gibt Carlo Goldoni in seinen Memoiren. Er erzählt von Vitalis Eintreffen in Mailand 1730 und erkennt in ihm den „ciarlatano d'una specie rarissima". Goldoni ist interessiert an Vitalis Auftreten zwischen den Figuren der Commedia dell'arte auf der menschenüberfluteten Piazza Scala. War der Platz eines Tages weniger voll, so erklärte Vitali, nicht behandeln zu können, er brauchte das Fluidum zwischen Redner und Menge. Unter seinen Schauspielern befanden sich große Künstler (er unterhielt die Truppe auf seine Kosten), mit denen Goldoni gerne in Verbindung kommen wollte. So besuchte er eines Nachmittags als Patient den Anonimo. Aber schon nach wenigen Worten war er durchschaut. Der Arzt, der selbst Komödien schrieb, ließ ihm als beste Medizin eine Tasse vorzüglicher Schokolade servieren. Dann sprachen die beiden über Komödien und für Vitalis Truppe schrieb Goldoni seine erste Komödie, den „Gondoliere von Venedig".
Vitali war das Genie unter den Scharlatanen; er war es, der die Worte geschrieben hat: „die Welt ist ein Theater, das aus Mimen und Zuschauern zusammengesetzt ist. Gespielt wird auf der Bühne der Welt das Leben und der Autor dieser Vorstellung hat bestimmt, daß jede Figur sich anders kleide ..." Und - das war die Meinung des Anonimo - wer Scharlatan ist, der soll auch als Scharlatan auftreten. Dieser Scharlatan bekennt sich zu sich selbst und will nicht scheinen, was er nicht ist. Er bedarf nicht der Fälschung, bei ihm fehlt das Moment der Spekulation. Und weil der künstlerische Impuls hier nicht mehr als Wissens- oder Meinungsfälschung wirkt, sondern in Persönlichkeit und Lebensgestaltung beschlossen ist, fehlt bei Vitali das Odium, das auf allen anderen Scharlatanen lastet, das Odium der Fälschung.

Gegenrede zum Inhalt dieser Ciba-Zeitschrift von 1936 von Dr. Michael Brandner

Zur Ehrenrettung des Grafen von St. Germain möchte ich darauf hinweisen, daß der Artikel "Der Scharlatan" von Grete de Francesco folgenden unsinnigen Satz enthält:
 
"Immerhin braute er [gemeint ist St. Germain] ein kostspieliges Lebenselixier, den noch heute als St.Germain-Tee verbreiteten Abführtee. Er besteht aus Sennesblättern."
 
Dazu möchte ich folgendes feststellen: 
  1. Teespezialitäten werden nicht gebraut, sondern gemischt.
  2. Wenn der Tee aus Sennesblättern besteht, warum ist er dann kostspielig?
  3. Ein Elixier kann kein Tee sein.
  4. Der St. Germain-Tee besteht nicht aus Sennesblättern, sondern wird aus Fenchelsamen, Anissamen, Kaliumtartratkristallen, Weinsäurekristallen, Sennesblättern und Holunderblüten zubereitet.
  5. Auch wenn dieser Tee aus dem oben erwähnten Grund kein Lebenselixier sein kann, so stimmt zumindest, daß St. Germain diese Spezialität als lebensverlängerndes Mittel ("Species ad longam vitam") bezeichnet hat. Es ist natürlich leicht, sich darüber lustig zu machen, daß ein Abführmittel lebensverlängernd sein soll, wenn man die medizinischen Zusammenhänge nicht kennt. Der Anspruch auf diese Wirkung ist jedoch nicht unberechtigt, denn der "St. Germain-Tee" ist ein stoffwechselverbesserndes Mittel bei akuten und chronischen "Ablagerungskrankheiten" (Rheuma, Gicht, Gallen- und Nierensteine). Er wirkt nicht nur abführend, sondern auch kühlend (temperatursenkend und entzündungwidrig), verdauungsregulierend, schweiß-, harn- und galletreibend. Wird dieser Tee richtig eingesetzt - beispielsweise bei akuten fieberhaften rheumatischen Beschwerden oder bei Fettsucht und Gallensteinen -, so kann er durchaus lebensverlängernd sein. Man kannte und nutzte eben die Wirkungen, die gewisse Abführmittel auch auf andere Organsysteme entfalten. Die im St. Germain-Tee enthaltenen Sennesblätter beispielsweise sind nicht nur abführend, sondern auch galle- und periodentreibend.
Betrachtet man die Zusammensetzung dieser Spezialität, so sieht man sofort, daß St. Germain ein Kenner und Könner auf diesem Gebiet war. So wurde beispielsweise die erhitzende Wirkung der Sennesblätter durch kühlende Salze ausgeglichen, die auf eine originelle Weise mit den Samen verbunden werden. Durch die Weinsäure erhält der Tee außerdem die Wirkung einer Fieberlimonade. Betrachtet man dann noch die vielen Variationen dieser Spezialität, die später in Europa entstanden sind, sieht man erst recht, wie viel Verstand und Künstlertum in dieser Komposition steckt.
Wenn man sich die Mühe gemacht hat, solche Heilmittel, wie den St. Germain-Tee selbst herzustellen und in der Praxis zu prüfen, hat man wenig Grund, so überheblich darüber zu urteilen, wie Grete de Francesco. Leute wie der Graf von St. Germain sind doch nicht blöd, nur weil sie vor ein paar Jahrhunderten gelebt haben!
 
Dr. med. univ. Michael Brandner
Arzt für Allgemeinmedizin 
 

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