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Die Schule von SALERNO

Ciba-Zeitschrift April 1938 Nr.56

Mittelalterliche Miniaturen, die Szenen aus der Sprechstunde eines Arztes darstellen. Der Arzt ist durch Talar und Barett gekennzeichnet. Nach einer Bildtafel der französischen Übersetzung der Pharmakologie "De simplici medicina", die der Salernitaner Matthäus Platearius II: (Ende des 12. JH. verfasste. Brit. Museum

Inhalt
Die Anfänge der Schule von Salerno
Constaninius Africanus 
Das "Regimen fanitatis Salernitanum"

  
Hygiene
    Nahrung
    Heilmittel

    Anatomie
    Physiologie
    Pathologie und Therapie
   Von der ärztlichen Kunst
Der Salernitaner Arzt
Die Wiederentdeckung der Schule von Salerno
Die ersten deutschen Übersetzungen des Regimen sanitatis Salernitanum
Phantastische Heilvorschriften der Salernitaner
Zeittafel


    

 

Die Anfänge der Schule von Salerno
Von Dr. A. G. Chevalier

In der Zeit von Galens Tod (um 201 n.Chr.) bis zum Auftreten Vesals im 16. Jahrhundert gab es in der Medizin keinen wissenschaftlichen Fortschritt, da das Mittelalter im wesentlichen nur das Erbe der Antike übernahm, ohne eigene neue Werte zu schaffen.
Allerdings bildeten vor allem die Schriften des Hippokrates (460-370 v.Chr.) immer noch eine unversiegbare Quelle, aus der man schöpfte, und seine Lehren spielten in der praktischen Medizin lange eine ausschlaggebende Rolle. Nächst Hippokrates war Galen (131 bis 201 n.Chr.) der Lehrmeister für die Medizin der Folgezeit: in seinen Werken fanden die Ärzte neben den hippokratischen Lehren auch die anderer medizinischer Schulen. Dadurch wurde zwar das Wissen bereichert, ohne daß es aber zunächst zu einem weiteren Ausbau der medizinischen Wissenschaft gekommen wäre.
Zum Teil war der Stillstand der Medizin dadurch bedingt, daß die Zentren der Wissenschaft sich unter dem Wandel der politischen Verhältnisse verlagerten: Athen, Alexandrien, Rom, Byzanz lösten sich als Mittelpunkte wissenschaftlichen Lebens ab.
Das war für die Medizin zwar insofern günstig, als die Gelehrten der verschiedenen Schulen mannigfache Anregungen und Einzelerkenntnisse brachten, aber in der Hauptsache beschränkte sich die Tätigkeit dieser Epigonen doch auf die Abfassung von Kommentaren, Glossarien, Enzyklopädien und Kompendien; daneben verbreiteten auch populär-medizinische Schriften die medizinischen Kenntnisse des Altertums.
Während einerseits, zur Zeit der Völkerwanderung und im frühen Mittelalter, das Erbe der Antike in Byzanz, der Hauptstadt des Oströmischen Reiches, fortlebte und von hier aus ins Abendland drang, wurden die Weisheiten und Kenntnisse der Antike andererseits auch von den Arabern aufgenommen, umgestaltet und später Europa übermittelt.

Für die Anfänge Salernos ist es besonders bedeutsam, daß es wie ganz Unteritalien eine Zeitlang zu Byzanz, also zum Oströmischen Reiche gehörte, dem einzigen Staat, in dem es während der Wirren der Völkerwanderung Schulen, Bibliotheken, ausgebildete Ärzte und medizinische Schriftsteller gab, daß ferner in Unteritalien die Pflege der antiken Wissenschaft überhaupt nie ganz aufgegeben worden war und daß die Langobarden, die sich seit dem Jahre 568 hier festgesetzt hatten, die schon bestehende Kultur in den eroberten Ländern zu erhalten und zu fördern wußten. Jedenfalls soll es zur Zeit der Langobardenherrschaft, wie de Renzi in seiner Geschichte der Schule von Salerno ausführt, in Italien viele Ärzte gegeben haben, die zum Teil den Titel "Magister scolae" führten; es darf wohl angenommen werden, daß unter ihnen auch solche aus Salerno waren.

Daß Salerno seit dem Jahre 500 Bischofssitz war, kann ebenfalls als eine günstige Bedingung für die geistige Entwicklung der Stadt gewertet werden, denn im frühen Mittelalter wurden in den bischöflichen Residenzen Schulen gegründet und gefördert. Noch wichtiger aber ist die Gründung eines Benediktinerklosters in Salerno (Ende des 7.Jh.), war es doch bei den Benediktinern eine Ordenspflicht, sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen. So wird ihnen ausdrücklich anbefohlen, Hippokrates, Galen, Aurelian und andere medizinische Schriftsteller zu studieren. Die Anwesenheit jüdischer Ärzte - Juden wohnten seit römischer Zeit im Lande - das günstige Klima Salernos, das Kranke und Rekonvaleszenten anzog, und die hier auf bewahrten wundertätigen Reliquien einiger Heiligen trugen dazu bei, daß in Salerno die Heilkunde zum Mittelpunkt des geistigen Lebens wurde, sodaß es, obwohl auch die Philosophie und die Jurisprudenz hier geblüht haben sollen, schlechthin als "civitas hippocratica" bezeichnet wurde. Bemerkenswert ist, daß in Salerno sowohl Geistliche als auch Laien, Einheimische und Fremde, Männer wie auch Frauen als Ärzte tätig waren.

Wann und wie sich die in Salerno wirkenden Ärzte zu einem Verband, dem "Collegium hippocraticum" vereinigten, ist unbekannt, man weiß auch nichts Näheres über die Entstehung der medizinischen Lehranstalt, die zu einer Zeit, wo sich alle Gelehrsamkeit fast ausschließlich bei der Geistlichkeit fand, von Laien geleitet wurde. Dokumente des neapolitanischen Archives beweisen das: denn Männer und Frauen, Priester und Juden werden hier nebeneinander aufgezählt, und von einigen Schulvorstehern wird ausdrücklich gesagt, daß sie verheiratet waren.

Schon im Mittelalter wußte man über die Gründung der Medizinschule von Salerno nichts Genaueres mehr zu berichten, und in den folgenden Jahrhunderten war sie vollends sagenhaft geworden. Nach einer alten Chronik soll die Schule - wann wird nicht gesagt - von vier Ärzten verschiedener Herkunft gegründet worden sein, einem Griechen, einem Lateiner, einem Sarazenen und einem Juden, von denen jeder für seine Landsleute in seiner Muttersprache vortrug. Obwohl diese Legende die Frage nach dem Ursprung der Schule nicht zu beantworten vermag, ist sie doch insofern aufschlußreich, als aus ihr der internationale und religiös freie Charakter der Schule von Salerno hervorgeht, der ihre Entwicklung entscheidend beeinflußte und dem sie ihre große Bedeutung zu verdanken hat. Da es an beweisenden Dokumenten fehlt, gehen die Ansichten über die Anfänge der Schule von Salerno weit auseinander. Bald soll sie von christlichen Flüchtlingen aus Alexandrien (644), bald von deren Bedrängern, den Arabern, oder von Karl dem Großen (747-814), oder endlich von den Benediktinern ins Leben gerufen worden sein. Nach den Ergebnissen der neueren medizinhistorischen Forschung ist die Schule von Salerno jedoch nicht "gegründet" worden, sondern entstand allmählich und wuchs organisch.

Wie dem auch sei, nach den Berichten des Arztes und Dichters Alpanus, des Erzbischofs von Salerno (11.Jh.), stand dort die Medizin schon im 9. Jahrhundert in Blüte und in der gleichen Zeit werden in den Urkunden der Stadt Salerno schon Ärzte genannt, im Jahre 848 ein gewisser Josep, 855 ein "Josan medicus", und von da an hört man immer wieder von Salernitaner Ärzten, die teils in Salerno selbst (Ragenfried um 950, Grimoald gegen das Jahr 1000), teils an fremden Höfen wirkten, z.B. am Hofe Ludwigs IV. von Frankreich (936-954). Gleichzeitig wird auch von Patienten berichtet, die von weither kamen, um in Salerno Heilung zu suchen, so vom Bischof von Reims, Adalberon, im Jahre 984, von Desiderius, dem Abt von Montecassino, dem späteren Papst Victor III. (1086-1087), von Bohemund (1065 -1111), dem Sohn des Herzogs Guiscard (1056-1085) und von Robert, dem Sohn Wilhelms des Eroberers (1027 bis 1087). Wie allgemein bekannt Salerno in der mittelalterlichen Welt gewesen sein muß, läßt sich auch daraus schließen, daß es in dichterischen Werken erwähnt wird. Der deutsche Minnesänger Hartmann von Aue läßt seinen Helden, den armen Heinrich, der leprakrank ist, mit dem ihn liebenden Mädchen nach Salerno wandern, und der Franzose Ruteboeuf (13 - Jahrhundert) verspottet Salernitaner Verhältnisse und Salernitaner.Ärzte in satirischen Gedichten.


Nach den Angaben von Ordericus Vitalis, einem Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, bestanden in Salerno in der Mitte des 12. Jahrhunderts große medizinische Schulen, "Maximae medicorum scholae ab antiquo tempore habebantur". Vitalis berichtet auch von der großen Berühmtheit der dortigen Ärzte, was der jüdische Reisende Benjamin von Tudela, der Salerno im 12. Jahrhundert besuchte, und der unbekannte Autor des "Carmen archipoetae de itinere Salernitano", das um das Jahr 1162 am Hofe des Kölner Bischofs Reinald verfaßt wurde, bestätigen. Auf Grund all dieser Tatsachen darf man vielleicht vermuten, daß anfänglich in Salerno berühmte Ärzte nach antikem Beispiel Schüler im eigenen Heim unterrichteten und daß in einer späteren Epoche eine gemeinsame Lehranstalt an Stelle der Privatschulen trat und daß sich dann erst die Ärzte nach der Art von Gilden und Zünften zu Verbänden zusammenschlossen.
Auf jeden Fall bestand diese Lehranstalt in Salerno im 11. Jahrhundert und hatte jeweils zehn Lehrer, die aus der Ärzteschaft der Stadt gewählt wurden. (Mazza sagt ausdrücklich: "Decem doctoribus non ultra compositum.") Der älteste Arzt wurde auf Lebenszeit zum Vorstand bestimmt. Damals, im 11. Jahrhundert, zur Zeit des ersten Kreuzzuges, berührten unzählige Reisende Salerno, da der übliche Weg der Pilger, die ins Heilige Land zogen, durch ganz Italien bis nach dem südlichen Bari führte, wo sie sich einzuschiffen pflegten. Salernos Ruf wuchs und lockte außer Kranken auch viele Lernbegierige herbei. Damit hängt es wohl zusammen, daß in demselben Jahrhundert in Salerno eine literarische Tätigkeit einsetzte, die hauptsächlich im Dienst des Unterrichtes stand.
Ein in dieser Hinsicht charakteristisches, vielleicht frühsalernitanisches, aber nicht mit Sicherheit zu datierendes Buch ist der "Passionarius Galeni ", der unter dem Verfassernamen Gariopontus, dem Namen eines Klerikerarztes um 1050, bekannt ist; er wurde übrigens 1531 in Basel erneut gedruckt. Bei dieser Schrift handelt es sich nur um eine Kompilation von Übersetzungen aus Werken griechischer und byzantinischer Autoren, vor allem sind darunter einige Schriften des Hippokrates ("über die Luft, die Gewässer und die Orte", "Über das Verhalten bei akuten Krankheiten"), Teile aus der Therapeutik und der Physiologie des Galen, Fragmente aus den Schriftendes Caelius Aurelianus und des Priscianus (beide im 5. Jahrhundert) und die Synopsis des Oribasius. Doch nicht einmal als Kompilator war Gariopontus selbständig. Er soll, wie Häser meint, nur eine in Byzanz entstandene Enzyklopädie der Medizin ausgearbeitet haben. Der Passionarius war nichtsdestoweniger sehr beliebt und stand in hohem Ansehen, galt er doch lange Zeit hindurch als ein Werk des Galen! Heute ist die Schrift deshalb noch von Interesse, weil sie über die damals in Salerno herrschenden Lehren und Auffassungen Aufschluß gibt. Im Passionarius werden, ohne daß sich der Autor des Widerspruches bewußt wird, hippokratische und galenische Lehren mit solchen der Methodiker vermengt, wobei die der Methodiker das Übergewicht erlangen, und so wurde der als Hippokratesschüler bezeichnete Gariopontus Verbreiter einer Lehre, die im Gegensatz zu Hippokrates steht. Trotzdem verdient er den Namen eines Hippokratesschülers: die Beobachtungsgabe, die er beim Schildern der Krankheiten zeigt, und seine lebendige Darstellung verraten hippokratischen Geist.
Auch Petroncellus, ein älterer Zeitgenosse des Gariopontus, ist als Methodiker anzusehen; er ist der Autor der "Practica", eines Buches, das sich, wie schon der Titel sagt, vor allem mit der Therapie beschäftigt. Die Tatsache, daß dieses Werk schon im 12. Jahrhundert in englischen Umarbeitungen wieder auftaucht, kennzeichnet die Bedeutung der salernitanischen Schriften für das mittelalterliche Europa.

Berühmter als diese beiden Gelehrten ist Trotula. Sie lebte wahrscheinlich auch im 11. Jahrhundert, eine jener Frauen, die in Salerno studierten und dann den ärztlichen Beruf ausübten. Ob Trotula tatsächlich Ärztin gewesen ist, darüber sind die Medizinhistoriker nicht einig, von manchen wird sie bloß als Hebamme bezeichnet, andere gehen noch weiter und bezweifeln, daß die berühmte Trotula je gelebt habe. Vermutlich stammte Trotula aus einer der vornehmsten Familien des Landes. Vielleicht war sie die Frau des Arztes Johann Platearius d.Ä. und die Mutter eines berühmten medizinischen Schriftstellers, des Matthäus Platearius.
Die Bemerkung des Odericus Vitalis, daß der deutsche Gelehrte Mala Corona (Rodulfus) bei seinem Aufenthalt in Salerno (um die Mitte des 11. Jahrhunderts) dort nur einen Menschen und zwar eine Frau gefunden habe, der ihm in der Diskussion über naturwissenschaftliche Fragen standzuhalten vermochte, scheint sich auf Trotula zu beziehen. Und unter den sieben Autoren, deren Lehren die im 12. Jahrhundert veröffentlichte "Enzyklopädie" der Salernitaner Medizin "De aegritudinum curatione" wiedergibt, findet sich auch Trotula. Ihr Ruf reichte so weit, daß noch im 15. Jahrhundert der Leibarzt des Herzogs Sigismundus von Bayern, Johann Hartlieb, die Schriften der Trotula für die Herzogin bearbeitete und herausgab.
Was von Trotulas Werken auf uns gekommen ist, läßt ihren Ruhm berechtigt erscheinen. In ihrer Schrift "De compositione medicamentorum", die vorwiegend die Pflege der Haut behandelt, zeigt sie eine große Kombinationsfähigkeit und aus ihrem Werk "De mulierum passionibus ante, in et post partum", das seit Soranus (erste Hälfte des 2. Jahrhunderts) den ersten Beitrag zur Gynäkologie bildet, spricht ein sehr beweglicher Geist. Obwohl sich manches darin findet, was mit dem Thema in gar keinem oder nur in einem losen Zusammenhang steht, wie die Erziehung der Kinder oder die Entwicklung des Sprechens, und auch auf Aberglauben beruhende Heilverfahren und Entbindungsprozeduren angegeben werden, so hat doch Trotula das Verdienst, ein Gebiet, das jahrhundertelang ganz den Hebammen überlassen war, wieder zu einer medizinischen Disziplin erhoben zu haben. Daß sie im Kapitel über die Entbindung an den Dammschutz erinnerte, den schon Soranus kannte, der aber wahrscheinlich inzwischen in Vergessenheit geraten war, und bei vollkommenem Dammriß die Perinaeorrhaphie empfahl, erhöht die Bedeutung ihrer Schrift. Trotula schrieb aber nicht nur über Frauenkrankheiten, sondern auch über die anderen Zweige der Pathologie. Ihr Ernst und die Höhe ihrer Auffassungen bestätigen den Ausspruch Platos, daß sich die Frauen nicht weniger zur Medizin eignen als die Männer, ein Ausspruch, mit dem der spätere Historiker Mazza die Tatsache rechtfertigte, daß in Salerno Frauen zur Ausübung der Medizin sowie zur Lehrtätigkeit zugelassen wurden. Im großen. und ganzen aber ist alles, was sich in den Schriften findet, die von bestimmten Medizinhistorikern der Trotula zugeschrieben werden, ebenso wie bei ihren Zeitgenossen Gariopontus und Petroncellus, nichts als die Wiedergabe der in den klassischen Werken der Medizin enthaltenen Lehren.
Wie aber hätte es anders sein können, da die Kirche im Mittelalter jede selbständige Idee verpönte! Wurde doch, wie es aus den "Summae confessionis" des Mittelalters zu ersehen ist, der Arzt bei der Beichte befragt, ob er in der ärztlichen Praxis an den Traditionen festhalte, oder ob er es sich etwa einfallen lasse, nach seinem eigenen Kopfe Heilmethoden auszuprobieren, die für die Patienten gefährlich sein könnten.
Was damals aus den antiken medizinischen Werken bekannt war, haben Gariopontus, Petroncellus, Trotula und der Salernitaner Erzbischof Alphanus (gest. 1085), der Verfasser eines hippokratisch-galenischen Traktats "de quatuor elementis corporis humani", soweit es im Bereich ihrer Möglichkeiten lag, ausgeschöpft. Auch das anonyme "Speculum hominis", das in dieser Zeit erschien, brachte inhaltlich nichts Neues; Isidorus, der um 600 als Bischof von Sevilla lebte und auf den es sich beruft, war selbst ein Kompilator. Von eigener wissenschaftlicher Forschung ist auch in dieser Schrift nichts zu finden. Der anonyme Verfasser sagt es selbst: "Quae mea metra serunt, aliorum prosa fuerunt. Prosam imitavi, quia metrum plus placet auri." Weil also Reime dem Ohre angenehmer sind, sagt er in Versen, was andere vor ihm in Prosa ausgedrückt haben.

Leicht hätte dieses erste Lehrgedicht der Schule von Salerno ihr letztes Werk sein können. Denn die abendländische Medizin, die sich in Salerno zu entwickeln begann, schien nahe daran, aus Mangel an neuen Erkenntnissen und Gedanken wieder abzusterben.

Constaninius Africanus und der Einfluss der Araber auf Salerno
Von Dr. A. G. Chevalier

Auch außerhalb Europas wurde das Erbe der Antike lebendig. Die Araber, die auf ihrem Eroberungszug durch Persien und Ägypten mit dem Griechentum in Berührung gekommen waren, nahmen die griechische Gedankenwelt schnell auf. Unter der Herrschaft der Kalifen wurden viele griechische Autoren, darunter alle bedeutenden medizinischen, übersetzt, und zu Ende des 9. Jahrhunderts gab es kein größeres wissenschaftliches Werk mehr, das nicht ins Arabische übertragen war. Aber auch was die Araber an eigenen medizinischen Schriften hervorbrachten, die Werke eines Albukasin (10. Jhdt.), Rhazes (etwa 850 bis etwa 932)und der Kanon des Avicenna, sie alle sind auf griechischem Wissen aufgebaut.
Doch wurde das antike Geistesgut von den Arabern nicht einfach übernommen, sondern völlig umgestaltet. Die Medizin wird jetzt zu einem einheitlichen Lehrgebäude, das es ermöglicht, die einzelnen Lehrsätze in fast mathematischer Weise abzuleiten. Nicht die Erfahrung, nicht Hippokrates, sondern der spekulativere Galen dominiert. Daß diese arabisierte antike Medizin in Salerno und damit im Abendlande Eingang fand, ist das Verdienst von Constantinus Africanus. Von jeher war seine Persönlichkeit umstritten. Schon zu seinen Lebzeiten wurde er sehr verschieden beurteilt; bald wurde er als "Magister orientis et occidentis" verherrlicht, bald "Monachus insanus" gescholten, und mögen auch einige Medizinhistoriker ihn vor allem als skrupellosen Plagiator und unzuverlässigen Übersetzer tadeln, durch das erstmalige Übertragen arabischer Werke ins Lateinische hat er der jungen Salernitaner Medizin die Möglichkeit zu weiterer Entwicklung geschenkt. Darüber hinaus aber bedeutet er einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Orient und Okzident, denn seine Übersetzungen leiteten eine Periode ein, in der sich das Abendland arabischen Einflüssen erschloß.

Constantinus Africanus wurde um das Jahr 1018 in Karthago geboren. Er widmete sich früh der Medizin und begab sich nach Art der griechischen Gelehrten auf Reisen.
Wenn Constantin auch nicht die bedeutendsten Werke der Araber und von Hippokrates und Galen nur kleine Abhandlungen übersetzte, so leitete er doch die Glanzzeit Salernos ein und die produktivste Epoche der mittelalterlichen Medizin überhaupt.
Zu dem in Salerno stets entwickelt gewesenen Sinn für Tatsachen und für Einfachheit in der Behandlung von Krankheiten und in der Darstellung medizinischer Lehren, kamen jetzt unter dem Einfluß der neu erschlossenen arabischen Quellen hinzu: ein wachsendes Bedürfnis nach logischen Zusammenhängen und das Verständnis für die Theorie. Darauf ist es wohl zurückzuführen, daß man jetzt in Salerno die Krankheiten und ihre Heilung anatomisch zu begründen suchte. So wurde in der Zeit nach Constantin das erste anatomische Lehrbuch verfaßt, das die Heilkunde des Mittelalters kennt. Bisher war das Interesse für Anatomie gering gewesen, und in den ersten Schriften der Salernitaner bleibt das Anatomische ganz im Hintergrund. Zum Teil mochte dies seinen Grund auch in der religiös bedingten Abkehr von allem Körperlichen haben. Erst die anatomischen Schriften Galens und die Werke von Ali Abbas, der die Anatomie den anderen medizinischen Disziplinen gleichstellte, belebten das Interesse für die Anatomie. Und in der nachconstantinischen Periode wird die Anatomie an der Schule gelehrt. jedenfalls ist sowohl die anonyme "Demonstratio anatomica" (etwa um 1150) als auch die "Anatomia porci" (ursprünglich "Anatomia parva", lange Zeit auch irrtümlicherweise "Anatomia porci Cophonis" bezeichnet, weil sie als Anhang zu Cophos "Tractatus de arte medendi " gedruckt wurde) als eine Anleitung zum Sezieren gedacht. Dabei handelt es sich allerdings um die Sektion von Schweinen, denn die Schweine, so gibt der Autor an, sind, was die inneren Organe anbelangt, von allen Tieren den Menschen am ähnlichsten. Doch gingen diese Anatomiebücher kaum über eine Aufzählung der Körperteile hinaus. Füllt doch die "Anatomia porci" in der Ausgabe von de Renzi (Collectio Salernitana) nicht ganz drei Seiten und die "Demonstratio anatomica " deren zehn, wobei die Beschreibung der Sektion selbst viel Raum einnimmt. Aber beide Autoren, sowohl der anonyme Autor der "Demonstratio anatomica " als auch der nicht näher bekannte Magister Richardus (um 1130-1180) in seiner "Anatomia", ordnen ihren Stoff nach einem bestimmten Prinzip, nämlich nach den Funktionen der Körperteile. So behandeln sie Membra animata (Hirn und Nerven), Membra spiritualia (Herz, Lunge, Arterien, Rippen usw.) und Membra naturalia, die in die Membra nutritiva (Magen, Leber usw.) und die Membra generativa (Geschlechtsorgane) zerfallen.
Alle anatomischen Lehrbücher der nachconstantinischen Zeit sind von Constantins Übersetzungen aufs stärkste beeinflußt, was schon die benutzte Nomenklatur erweist, die auf Galen und Ali Abbas (gestorben 994) zurückgeht.
Auch die Chirurgie hat es Constantin zu verdanken, daß sie zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben wurde. Das ist deshalb merkwürdig, weil die arabischen Ärzte kaum Chirurgie betrieben hatten. Denn wie die christlichen Ärzte scheuten sie sich aus religiösen Gründen, Blut zu vergießen; sie glaubten ebenfalls an die Auferstehung des Leibes und vermieden vor allem deshalb chirurgische Eingriffe. Waren diese aber unvermeidlich, so benützten die Araber das Glüheisen an Stelle des Messers; die christliche Medizin vor Constantin, die dieses Verfahren nicht kannte, überließ die Chirurgie bekanntlich den Badern und Scharlatanen, während die gelehrten Ärzte auch in Fällen, die ein chirurgisches Vorgehen erfordert hätten (Wunden, Frakturen, Abszesse usw.), sich mit Salben, Dekokten und Umschlägen begnügten, wie das große Sammelwerk der inneren Medizin "De aegritudinum curatione " (12. Jhdt.) beweist.
Zwar mag sich die Chirurgie wohl notgedrungen weiter entwickelt haben in einer Zeit, wo die Kreuzzüge viele Verwundete ins Land brachten, aber erst durch die "Practica chirurgiae" (1180) des Salernitaner Wundarztes Roger Frugardi hörte sie auf, ein bloßes Handwerk zu sein. Dieses Werk ist die älteste chirurgische Schrift des christlichen Kulturkreises und geht ebenso wie die "Chirurgia" von Jamatus (Jamerius) aus Salerno (Ende des 12.Jhdts.) in der Bearbeitung und der Darstellung seines reichen Stoffes auf Constantinus zurück. Die "Chirurgia Jamerii" bezeichnete Guy de Chauliac übrigens als "chirurgia brutalis ".

Die "Practica" von Roger, bekannt in der Bearbeitung seines Schülers Roland von Parma (entstanden um 1240) und in ähnlicher Art die "Chirurgia" von Jamatus beschäftigen sich außer mit ihrem engeren Gebiet (Frakturen, Verletzungen, Hernien, Steinen, Fisteln, krebsartigen Geschwüren und Abszessen) auch mit Hautkrankheiten, vom harmlosen Ausschlag bis zur Lepra, und selbst mit Psychosen und Epilepsie, wohl deshalb, weil man gegen die letztgenannten Leiden die Kauterisation anwendete, die als chirurgisches Verfahren galt. Es werden auch Trepanationen behandelt und Schilddrüsenablationen mittels des Haarseiles (die dann vorgenommen werden, wenn die konservative Kropfbehandlung mit Meerschwämmen nichts genützt hat). Die Narkose kannte man, und zwar wurden den Patienten Schwämme, die mit narkotischen Pflanzensäften getränkt waren, vor die Nase gehalten. Das Blut stillte man durch Unterbinden, durch Anwendung des Glüheisens oder durch blutstillende Medikamente. Welcher Grad von chirurgischer Technik damals in Salerno erreicht war, läßt sich daran erkennen, daß bei einer Bauchverletzung der zerrissene Darm über einem Holunderröhrchen, das man in beide Darmenden hineinschob, oder über der Luftröhre eines Tieres zusammengenäht wurde.
Viel stärker als in der Anatomie und der Chirurgie kommt in der allgemeinen Heilkunde die Eigenart der arabischen Medizin, ihr spekulativer Charakter und ihre logische Feinheit zum Ausdruck. Schon die unmittelbaren Schüler des Constantinus, Johannes Afflacius (1040-1100), mit dem Beinamen Saracenus, und der wahrscheinlich aus derselben Epoche stammende Bartholomäus, verraten in ihren Werken diese Kennzeichen arabischer Geistesart.

Afflacius verfaßte die "Curae de febribus et urinis", das erste der später so zahlreich auftretenden Traktate über den Harn. Bartholomäus schrieb die berühmt gewordene und in viele Sprachen übersetzte "Practica" (ausführlich: Introductiones et experimenta in practicam Hippocratis, Galieni, Constantini, graecorum medicorum), ein Buch, das die Grundlage vieler späterer Arzneibücher wurde. Aus dem fast unmerkbaren Geräusch des Pulses und aus der Art des Harnes ein ganzes Krankheitsbild aufzubauen, entspricht der Vorliebe der Araber für Unterscheidungen und Analogien. Von der hippokratischen Serniotik ist die arabische sehr verschieden. Denn das Beobachten, das Hippokrates lehrte, war bei allem Eingehen auf Einzelheiten doch auf den Gesamteindruck gerichtet, die arabische Art aber ist ausgesprochen spekulativ: im Pulsschlag werden Gattungen, Arten und Unterarten unterschieden, und der Harn wird nach Farbe, Dichte, Menge und Trübungen untersucht, wobei man seine 19 Farben den Veränderungen der Elementarsäfte und die Stelle, wo im Glas die Trübungen zum Vorschein kommen, einer entsprechenden Region des menschlichen Körpers zuordnet.

Der fremde Geist, der sich in der neuen Therapie regte, war der hippokratischen Einfachheit, die vor Constantinus in Salerno geherrscht hatte, zu sehr entgegengesetzt, als daß er sich ohne weiteres hätte durchsetzen können. Auf das "Antidotarium" Nicolai Salernitani mit seinen 137 komplizierten Rezepten (seit dem 16Jh.. einem Nicolaus Praepositus zugeschrieben, vermutlich infolge Verwechslung mit dem Lyoner Arzt Nicole Prevost, der um 1500 lebte) folgten Mitte des 17. Jahrhunderts die Ergänzungsschriften des Matthäus Platearius d.J., die "Glossae"„ und das " Circa instans" (so genannt nach den ersten Worten, mit denen es beginnt; sein Titel lautet: De simplici medicina), in denen der Autor, ohne auf die neuen Medikationen gänzlich zu verzichten, sie doch erheblich beschränkt. Ebenso erfährt das (,Compendium" des Magister Salernus (um 1130-1160), der die Zubereitung und Wirkungsweise der Heilmittel nach der Art der Araber erörtert, in dem Kommentar des Bernardus Provincialis (entstanden 1150-1160) eine Vereinfachung. Und die köstliche kleine ins Gastronomische gehende Abhandlung des Petrus Musandinus (Mitte des 12. Jhdts.) („Summula de praeparatione ciborum er potuum infirmorum" bringt nachdrücklich in der neuen Behandlung mit Medikamenten die hippokratische Art zum Ausdruck, die Rücksichtnahme auf die Lebensgewohnheiten und die Überzeugung von der Wichtigkeit einer entsprechenden Ernährung.

In dem Ringen zwischen dem unverfälschten griechischen Einfluß, der von früher her Salerno beherrschte und dem arabischen, der mit Constantinus begann, besaß im 12. Jahrhundert der griechische noch das Übergewicht. Noch immer galt in Salerno: "Natura est operatrix, medicus vero minister", noch immer überwogen dort die Einfachheit bei der Krankenbehandlung und in der Darstellung medizinischer Lehren der gesunde Menschenverstand und der Tatsachensinn. Klassisch wurden die beiden in Salerno im 12. Jahrhundert geschriebenen Bücher, das "Regimen sanitatis Salernitanum ", das erste Schulbuch der Salernitanischen Richtung und das („De aegtitudinum curatione", ein Kompendium der inneren Medizin.

Der arabische Einfluß wurde indessen immer stärker, besonders da die Könige von Neapel und Sizilien, denen Salerno gehörte, von Roger 11. (1130-1154) an, der orientalischen Kultur sehr gewogen waren. Wie einst die Kalifen griechische Werke ins Arabische hatten übersetzen lassen, so bestellten nun die Normannenkönige bei gelehrten Juden lateinische Übersetzungen arabischer Autoren. Auf diese Weise wurden Ende des 12. Jahrhunderts die Werke von Rhazes und Avicenna bekannt. Dazu kam, daß man seit der medizi.nischen Studienordnung vom Jahre 1240 nur Medizin studieren durfte, wenn man einen dreijährigen Lehrgang in der Philosophie absolviert hatte, was für das abstrakte Denken und die Dialektik in der arabischen Medizin besonders empfänglich machte.

Der Eindruck, den die Werke der arabischen Schriftsteller hervorriefen, war ungeheuer. Der Tatsachenreichtum und die Eindringlichkeit des "Continens " von Rhazes, bekanntlich eine Sammlung von Auszügen arabischer und griechischer Autoren, und mehr noch die übersichtliche und folgerichtige Darstellung des Avicenna (980-1037), der alles medizinische Wissen mit Galen und Aristoteles zu fundieren wußte und auf ihm einen geschlossenen Bau aufzuführen verstand, bestrickten das Abendland. Der Widerstand der alten Richtung in Salerno wird immer schwächer. Einer der letzten Gegner der arabischen Richtung in der Medizin ist der Salernitaner Giovanni di Procida in Palermo, Leibarzt Friedrichs 11. Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts befindet sich die alte Civitas Hippocratica vollständig im Banne des Arabismus. Der Satz des Rhazes, es sei

für einen Arzt wichtiger, hundert Bücher zu lesen, als hundert Kranke zu sehen, gilt nunmehr auch in Salerno.

Die Folge dieser völligen Unterwerfung unter einen fremden Geist ist der nun allmählich einsetzende Niedergang der Schule von Salerno. Sie wird literarisch unfruchtbar, die Zahl der Schüler nimmt ständig ab und für das Ausland verliert Salerno seine Anziehungskraft, umsomehr, als die Kunst der Dialektik an den Schulen von Bologna und Paris, die sich inzwischen entfaltet hatten, viel höher stand. Auch die Schule von Montpellier, nach Salerno die älteste Medizinschule des Abendlandes, war jetzt Salerno überlegen, und bei der neugegründeten Universität von Neapel (1224) fiel sehr ins Gewicht, daß Neapel königliche Residenz war.

Ende des 14. Jahrhunderts spricht der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304 bis 1374) von Salerno wie von etwas Vergangenem: "Fuisse medicinae fontem Salerni fama est." Tatsächlich "lebt" die Schule von Salerno nicht mehr, obwohl sie noch jahrhundertelang fortbesteht und immer noch Ärzte ausbildet. Im Jahre 1811 macht Napoleon ihrem Dasein ein Ende, indem er sie offiziell schließt.
Hingegen lebte der Geist des alten Salerno in anderen Ländern weiter. Er verbreitete sich weithin in Europa, und zwar merkwürdigerweise von Paris aus, wohin ihn an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert Gilles de Corbeil verpflanzt hatte, ein Schüler der Salernitaner Lehranstalt, später Professor an der Pariser medizinischen Fakultät und Leibarzt des französischen Königs Philipp August (1180 bis 1223). Außerdem wurden aber einige authentische Salernitaner Werke immer wieder in andere Sprachen übersetzt und studiert, vor allem die "Chirurgie" des Roger, die von den „Viermeistern" (Glossulae 4 magistrorum super chirurgiam Rogerii et Rolandi) im 13. Jahrhundert kommentiert wurde; sie diente den Chirurgen noch lange Zeit als Handbuch und bildete in der Originalform Jahrhunderte hindurch den Wissensschatz der Wundärzte.

Hier sind auch zu nennen die "Anatomia porci", deren Spuren sich in vielen anatomischen und chirurgischen Lehrbüchern der Folgezeit wiederfinden, dann die "Practica" des Bartholomäus, die selbst im fernen Dänemark populär war, das "Antidotariurn" von Nicolaus Salernitanus, das zum allein maßgebenden pharmazeutischen Lehrbuch des Spaten Mittelalters wurde, das Werk „De aegritudinum curatione" und nicht zuletzt das „Regimen sanitatis". Alle diese Schriften stammten aus jener Glanzzeit Salernos, die durch Constantins Wirken eingeleitet worden war.

Das "Regimen sanitatis Salernitanum"
Von Dr. A. G. Chevalier

Wenige Bücher außer den religiösen dürften die Lebensart der europäischen Völker jahrhundertelang so stark beeinflußt haben wie das sogenannte "Regimen sanitatis Salernitanum ", die Salernitanische Anweisung zu Gesundheit und zu langem Leben. Dieses Werk erschien im 12. Jahrhundert, in der Blütezeit Salernos, und wurde in England, Italien und Deutschland noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts neu aufgelegt, zu einer Zeit also, da die Schule von Salerno nur noch einem engen Kreise von Fachgelehrten bekannt war. Das „Regimen " erreichte mehr als 140 Ausgaben; erst wurde es als Manuskript und Inkunabel verbreitet - es war einer der frühesten kostbaren Drucke - und später wurde es zum billigen Volksbuch. Seine Volkstümlichkeit blieb nicht auf ein Land beschränkt: in fast alle europäischen, einige asiatische Sprachen, selbst in Dialekte wurde es übertragen.

Der französische Medizinhistoriker Charles-Victor Daremberg (1817-1872), einer der ersten Salerno-Forscher, nennt das Regimen, das mitunter den Namen "Flos" oder „Lilium Medicinae" führt, ein Werk medizinischer Rhapsoden. Tatsächlich wird nur diese Auffassung der Schrift gerecht, die unvermittelt auftauchte, ohne daß man wüßte, wann und von wem sie verfaßt ist, und die sich jahrhundertelang ständig veränderte und wuchs. Die erste Ausgabe stammt von Arnald von Villanova (um 1238-1311). Sie zählt in den meisten erhaltenen Manuskripten 362 Verse, in manchen mehr, in manchen weniger, sodaß die Villanovaschen Ausgaben zwischen 269 bis 389 Versen schwanken. Historisch verwertbar ist eigentlich nur die von Villanova kommentierte Ausgabe in 364 Versen, die um 1300 erschien. Die späteren Ausgaben enthalten zum Teil bis über 1200 Verse, ohne daß es möglich wäre, den Zeitpunkt und den Ursprung der einzelnen Einfügungen festzustellen. De Renzi vereinigte in der "Collectio Salernitana" (1852) alle erreichbaren Verse des "Regimen" und kam so auf 3526 Verse, also fast auf das Zehnfache der ursprünglichen Anzahl. Manche inhaltlichen Unstimmigkeiten und Stilunterschiede sind in den Text des "Regimen" hineingekommen, so daß es an jene Volksepen erinnert, deren Aufbau das Werk vieler Generationen ist, und deren Teile verschiedenen Welten anzugehören scheinen. Nicht nur ein Volk, sondern ein ganzer Erdteil legte in dem "Regimen " seine Erfahrungen nieder und klammerte sich an sie in der Angst vor Krankheit und Tod.
Der am meisten verbreiteten Überlieferung zufolge soll das "Regimen" von der gesamten Schule von Salerno für den normannischen Prinzen Robert, den Sohn Wilhelms des Eroberers (1027-1087), verfaßt worden sein, der im Jahre 1101 nach Salerno kam, um dort seine Armwunde heilen zu lassen. Die Salernitaner waren überzeugt, daß Robert den Thron seines Vaters erben werde (was aber nicht geschah), deshalb heißt es in der Widmung des Regimen: „Anglorum regi scripsit tota schola Salerni".
In einigen Ausgaben steht in der Widmung an Stelle von "anglorum" "francorum". Wie Salvatore de Renzi (Neapel) (1800-1872) in seiner Geschichte der Schule von Salerno berichtet, beziehen manche Gelehrte diese Zueignung auf Karl den Großen, indem sie sich auf einen in England befindlichen Kodex berufen, der ausdrücklich von Versen spricht, die „Carolo Magno francorum regni gloriosissimo „ gewidmet sind. Es gibt auch Ausgaben, in denen die Zueignung gänzlich fehlt, und Handschriften, die zwei Unbekannte, Johann von Mailand und Johannes de Novo Foro, als Autoren nennen.

Auch andere mittelalterliche medizinische Fakultäten verfaßten ein "Regimen " nach Art des salernitanischen, war doch der Erfolg dieses Werkes, das schon vor der Erfindung der Buchdruckerkunst 24 Ausgaben zählte, ungeheuer. Schon im 13. Jahrhundert spricht der französische Arzt und Dichter Gilles de Corbeil voller Empörung von einem "Regimen" der Schule von Montpellier; hier erschien bereits 1477 ein weiteres, und 1519 gab auch die Pariser Fakultät ein "Regimen" heraus. Doch keines von ihnen konnte gegen die Beliebtheit des salernitanischen aufkommen. Eine gewisse Rolle spielte dabei sicherlich die Gefälligkeit der salernitanischen Verse. Strophen wie z. B. "Cum locus est morbis, medico promittitur orbis" haften leicht und lange im Gedächtnis. Vor allem aber weist das salernitanische „Regimen", das noch aus der griechischen Periode Salernos stammt, jene Lebensbejahung und Einfachheit auf, die den großen Massen weit eher entsprach als z. B. die Dialektik der scholastischen Medizinschule von Paris.
Ursprünglich scheint das "Regimen" eine Anweisung für die Hygiene des täglichen Lebens gewesen zu sein. In einer der ersten deutschen Übersetzungen wird es so charakterisiert: „dies biechlin sagt von dem regiment der gesuntheit durch alle monat des ganzen jars". Aber das durch den Einfluß des Constantinus Africanus sich immer stärker entwickelnde Interesse an wissenschaftlichen Theorien führte dazu, daß dem "Regimen" ein theoretischer Unterbau gegeben wurde.

Die vollständige Ausgabe der Collectio Salernitana enthält zehn Teile, von denen jeder ein anderes Gebiet der Heilkunde behandelt. Die folgende Wiedergabe von Lehren und Ansichten des "Regimen" beschränkt sich nur auf einige wenige besonders interessante Gruppen, wobei gelegentlich im "Regimen" verstreute Angaben zusammengefaßt werden.

Hygiene

Der Weg, der zur Gesundheit und zu einem langen Leben führt, wird in 8 Kapiteln wiederholt in allen Einzelheiten erklärt. Wer, so heißt es, lange leben will, muß vor der Zeit "wie ein Greis leben". Das alte griechische Maßhalten wird mit einem Aufwand an Mitteln gepredigt, der nur verständlich ist, wenn man sich vorstellt, wie fremd der Grundsatz der Mäßigkeit dem mittelalterlichen Menschen in seiner überschäumenden Lebenskraft gewesen sein mag.

Für jede Jahreszeit und noch ausführlicher für jeden Monat wird die Lebensführung angegeben. Die Art und die Menge der Kost, das Ausmaß der Bewegung, das Purgieren und Aderlassen, der Grad der Enthaltsamkeit in der Liebe, alles wird erläutert. Für die Hochsommermonate wird z. B. empfohlen, das Essen und Trinken, insbesondere den Alkoholgenuß, aufs äußerste zu beschränken, die Liebe wird als lebensgefährlich bezeichnet, und vor Bädern wird gewarnt. Das im Sommer eingestellte Aderlassen soll im September wieder aufgenommen werden. An welchen Stellen des Körpers der Aderlaß ausgeführt werden soll, wird für die einzelnen Monate genau angegeben. Die Dauer des Schlafes soll nach den Jahreszeiten verschieden sein, aber sie darf nicht weniger betragen als sechs Stunden. Damit der Schlaf bekömmlich sei, ist auch die Lage beim Schlafen genau zu beachten. Am Tage nicht zu schlafen, ist eine der wichtigsten Gesundheitsregeln; wer sie außer acht läßt, wird sich Kopfweh, Schnupfen oder Fieber zuziehen, besonders, wenn er seinen Schlaf ausdehnt oder nach Tisch verlegt. Wer unbedingten Wert auf längeres Ausruhen legt, der darf es sich in den Monaten, die auf us endigen, also im Januarius, Februarius usw., erlauben.

Besonders wichtig ist die Regelung der Verdauung. Und bei der Darmentleerung, so sagt das Regimen, darf man nicht innehalten, selbst wenn ein großer König mit seinem ganzen Hofstaat vorbeigehen sollte! Ebenso wenig soll man aus irgendeinem Grund die Winde zu verhalten suchen. Zwei- bis dreimal täglich muß man seinem Darm, sechsmal täglich seiner Blase Zeit und volle Aufmerksamkeit widmen.

Nicht weniger wichtig für die Gesundheit ist das Baden. Bei Kopfschmerzen, Fieber, Geschwüren oder frischen Verwundungen wirken Bäder als Heilmittel, doch darf man sie nie mit vollem Magen nehmen, und nach dem Bade soll man nicht schreiben, es sei denn, man lege auf die Schonung der Augen keinen Wert. Langes Baden ist ungesund, denn es vermehrt die Feuchtigkeit des Körpers.

Nahrung

Nicht die abwechslungsreiche, sondern die einförmige Kost ist die beste Nahrung. Äpfel, Birnen, Milch, Käse und Hasenfleisch sind schädlich, ferner alles Gebackene, jedes aus einem anderen Grunde. Brot darf man zum ersten Frühstück, nach alter Sitte in Wein getaucht, genießen, es soll aber sonst nur in kleinen Mengen und nie mit Fleisch oder Wein zusammen verzehrt werden. Butter ist ein gutes Laxans; Käse, mit Milch zusammen genossen, ruft Ausschläge hervor, ist aber am Ende der Mahlzeit bekömmlich. Gemüse sind oft vorteilhaft: Porree kann Frauen fruchtbar machen und das Blut stillen, Zwiebel, in Honig und Essig getaucht, heilt Hundebisse, kleingestoßen befördert sie den Haarwuchs. Nüsse enthalten ein starkes Gift, nach dem Genuß von Birnen sollte man sofort Wein trinken; nur Kirschen, Zwetschgen, Trauben und Feigen sind vorteilhaft für die Gesundheit, auch wirken sie abführend. Als Tafelgetränk kommt vor allem der Wein in Betracht; Wasser ist vom Tische ganz zu verbannen.

Heilmittel

Im Anschluß an die Schilderung der Eigenschaften der Speisen werden die Heilmittel in mehr als 800 Versen besprochen. Es handelt sich um Mittel pflanzlicher Herkunft, bei denen meistens die purgierende oder diuretische Wirkung in den Vordergrund gestellt wird. Die Heilwirkung jeder Pflanze wird beschrieben, von der Aloee z. B. wird gesagt, daß sie Wunden austrockne, Augen-, Ohren-, Zungen- und Kopfweh behebe, Haarausfall und die Gelbsucht beseitige. Zimt wird gegen Herzklopfen empfohlen, Koriander (Rumex acetosa) soll die Menstruation aufhalten, Kümmel die Blutung vermindern. Fenchelsamen und Kümmel sind für schwangere Frauen schädlich, aber, ebenso wie die Gewürznelke, hervorragende Aphrodisiaka. Der weiße Pfeffer beruhigt die Nerven, lindert den Husten und behebt das Augenflimmern.
Es wird allgemein angenommen, daß die ursprüngliche Fassung des "Regimen" nur bis zum Ende des Kapitels über die Heilmittel reichte. Die folgenden Teile sind später hinzugekommen; auffallend ist, daß in ihnen keinerlei arabische Einflüsse zu erkennen sind.

Anatomie

Der Anatomie gelten in der vollständigen Ausgabe der Collectio nur 35 Verse; in den meisten anderen Ausgaben nur 10, wie z. B. in der von dem französischen Medizinhistoriker Daremberg herausgegebenen Ausgabe von 1880. Zieht man in Betracht, daß damals selbst die Lehrbücher der Anatomie nur wenige Seiten stark waren, so wird es verständlich, daß eine volkstümliche Schrift sich mit einigen Zeilen über Anatomie begnügen konnte.
Im „Regimen" werden aufgezählt: nervus et arteria, cutis, os, caro, glandula, vena, pinguedo, cartilago er membrana, tenontes (Nerven und Arterien, Haut, Knochen, Fleisch, Drüsen, Venen, Fett, Knorpel, Sehnen), und es wird die Anzahl der Knochen (219), der Zähne (32) und der Venen (365) angegeben. Als „membra officialia " werden genannt: Leber, Galle, Magen, Kopf, Milz, Fuß, Hand und Herz, Gebärmutter und Blase.

Physiologie

Die Physiologie des "Regimen" steht unter dem Einfluß der hippokratischen Säftelehre. Vier Säfte machen den Körper aus: Blut, Schleim (Phlegma), gelbe Galle (Cholera) und schwarze Galle (Melancholia). Sie vertreten im menschlichen Organismus das Universum, denn sie repräsentieren die vier Elementareigenschaften: Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit und sind den vier Grundelementen, aus denen die Welt aufgebaut ist, zugeordnet: das Blut der Luft, der Schleim dem Wasser, die gelbe Galle dem Feuer, die schwarze Galle der Erde. In jeder Jahreszeit hat in der Natur eines der Elemente das Übergewicht, im Frühling die Luft, im Sommer das Feuer, im Herbst die Erde, im Winter das Wasser, und entsprechend ist es auch im menschlichen Leben. Auch hier gibt es vier Zeitalter, deren jedes von einem der Säfte beherrscht wird, so die Jugend vom Blut. Außerdem ist bei jedem Menschen unabhängig von seinem Alter einer der Säfte im Übergewicht; von der Natur dieses Saftes hängt seine Konstitution ab, mit allem, was sie bedingt, dem physischen und geistigen Habitus, den Neigungen und den Krankheiten. So ist der Sanguiniker genußsüchtig, lebensfroh, gutmütig und wohlwollend; er ist leicht gerötet und neigt zur Fettleibigkeit. Der Choleriker ist leidenschaftlich, jähzornig, autoritär und ehrgeizig, hochgewachsen, mager und von gelber Gesichtsfarbe. Der Phlegmatiker fällt durch seine kleine Statur, durch Korpulenz und Blässe auf; er ist immer verschlafen und zeigt für nichts Interesse. Der Melancholiker ist menschenscheu und traurig, wittert ständig Gefahren, freut sich fremden Unglücks und schläft unruhig; er ist hager, dunkel und wie ausgetrocknet.


Das Leben ist an das Herz gebunden, der Geist an das Gehirn; in der Leber werden die Säfte gebildet, die Venen enthalten das Blut, die Milz die schwarze Galle, die sich durch den Mastdarm entleert, die Lunge das Phlegma, das durch den Harn ausgeschieden wird, und die Blase die gelbe Galle, die vermittels des Schweißes nach außen tritt. Mit dem Blut gelangen die Säfte von einem Organ zum anderen. Soweit die Nahrung nicht als Harn oder als Faeces ausgeschieden wird, trägt das Blut sie durch den ganzen Körper und ernährt ihn auf diese Weise.

Pathologie und Therapie

Das Überhandnehmen eines Saftes verursacht bestimmte krankhafte Zustände, die zu ausgesprochenen Krankheiten werden und tödlich ausgehen können (von der Verminderung eines Saftes ist nie die Rede, wohl weil angenommen wird, daß beim Mangel an einem Saft gleichzeitig ein anderer im Überschuß vorhanden ist). Vom Blutüberfluß z. B. kommen Blutstürze, rote Ausschläge, Pusteln, Wassersucht. Der Gallenüberfluß erzeugt Ohrensausen, Erbrechen, Durst, Appetit und Schlaflosigkeit. Zuviel Phlegma ist die Ursache von Magen- und Seitenweh, Ekelgefühl, niedriger Körpertemperatur, langsamem Puls und Schmerzen am Hinterkopf. Auch bei einem Überschuß an schwarzer Galle ist der Puls langsam, die Ohren sausen, man hat üblen Geschmack im Mund und allgemeine, Körperschwäche stellt sich ein; mit der Zeit können sich aus diesem Zustand Krankheiten entwickeln wie Krebs, Elephantiasis, Manie, Lepra, Wechselfieber oder auch Hämorrhoiden.
Zu den wichtigsten Krankheitssymptomen gehören Schmerzen, Geschwülste, Geschwüre, Änderungen der Gesichtsfarbe, die besondere Beschaffenheit des Schweißes und der Ausscheidungen. So ist z.B. heißer Schweiß das Zeichen eines chronischen Leidens, kalter der eines latenten und spärlicher Schweiß ein Zeichen dafür, daß sich der Krankheitsstoff auf abnorme Weise entleert. Quillt das Blut beim Aderlaß schaumig hervor, so deutet das auf Husten, ist es bläulich, auf eine Leberkrankheit usw. Das Aussehen der Exkremente, der Geruch des ausgehusteten Schleimes und vor allem der Harn geben wichtige Aufschlüsse über die Krankheiten, denn in jeder dieser Ausscheidungen ist der Saft enthalten, der das Leiden verursacht hat. Allerdings muß man sich, um eine richtige Diagnose stellen zu können, nicht auf diese Erscheinungen allein verlassen, sondern auch das Aussehen des Patienten und besonders seinen Blick beachten. Nur wenn man von der Konstitution, den Lebensumständen und den Gewohnheiten des Kranken ein Bild gewonnen hat, kann man sein Leiden ergründen.
Die Krankheiten können erblich sein, wie Lepra oder Tuberkulose, oder erworben, wie die Halsentzündung. Sie betreffen den ganzen Körper oder nur einen seiner Teile. Die Gleichgewichtserschütterung, die den Krankheiten zugrunde liegt, kann durch fünferlei Ursachen hervorgerufen sein: zu heißes Blut, körperliche oder seelische Belastung, schlechte Nahrung, Gefäßerweiterung oder verengung und verdorbene Säfte.
Eigenartig ist es, daß dieselbe Krankheit oft verschiedene Namen besitzt, je nachdem sie an verschiedenen Körperteilen auftritt. So wird z.B. die Gicht dann Paralyse genannt, wenn die ganze rechte Seite des Körpers von ihr befallen ist, sie heißt Podagra, wenn die Füße, Arthritis, wenn die Gelenke, Ischias, wenn die Beine erkrankt sind, und Tetanus, wenn sie den ganzen Körper in Mitleidenschaft gezogen hat. Der Schnupfen und alle seine Begleit- und Folgeerscheinungen, wie Schmerzen in der Stirnhöhle, Halsweh, Husten usf., werden ausführlich behandelt, als Therapie wird der Genuß heißer Nahrung und heißer Getränke empfohlen und die Applikation heißer Tücher auf den Kopf. Tuberkulöse sind gut zu nähren, und zwar hauptsächlich mit Milch, der Honig und Salz beizumengen sind, und sie sollen möglichst in gute Luft gebracht werden. Bei Fieberkranken muß das Krankenzimmer gut gelüftet und eher kühl als warm sein. Angina erfordert einen sofortigen Aderlaß, Ohrenschmerzen werden mit Aalfett behandelt und Augenweh dadurch, daß man Kümmel beißt und die Augen mit Rosenwasser wäscht. Von den Pocken weiß das "Regimen", daß sie sich durch Ansteckung verbreiten, also durch Vorsicht vermieden werden können. Eine noch bessere Methode, dieser furchtbaren Krankheit zu entrinnen, bestehe darin, dem gefährdeten Menschen "Variolas salubres" zu inokulieren.

Von der ärztlichen Kunst

Ohne auf die einzelnen Krankheiten einzugehen, erörtert das therapeutische Kapitel des „Regimen" die allgemeinen Heilverfahren, wie das Purgieren, Klistieren, den Aderlaß und das Schröpfen.
Wichtig ist, daß der Arzt den Kranken genau kennt, bevor er ihm eine Kur verordnet; auch soll er den Willen des Kranken berücksichtigen; während der Krankheit soll der Patient wenig essen, nach Einnahme eines Abführmittels und nach einem Aderlaß soll er die folgenden Stunden weder Nahrung zu sich nehmen noch schlafen.
Der Aderlaß bringt große Vorteile: er macht die Augen und das Gedächtnis klar, verleiht Kräfte, beruhigt die Nerven, behebt Angst- und Ekelgefühle. Die besten Monate für den Aderlaß sind September, April und Mai, doch auch in diesen Monaten darf er nicht bei Vollmond ausgeführt werden. Das Blut soll in einem breiten Strahl fließen und der Einschnitt an einer der Venen erfolgen, die in der Armbeuge sichtbar sind, oder an der Salvatella und am Bein.
Schröpfen darf man nicht, wenn das Wetter sehr kalt oder sehr heiß ist. Die geeignetsten Stellen zum Schröpfen sind Nacken, Wade, Schulter, Rücken und Nierengegend.
Klistiere sollen nicht bei vollem Magen, Darmabszessen und Hernien verabreicht werden; werden sie aus milden Kräutersäften zubereitet, denen Veilchenöl, Kleie und Salz beigegeben werden, dann lindern sie Koliken und Magenschmerzen.
Im Krankheitsfall kann nur der Arzt helfen. Dem Leser wird als Warnung vor den Scharlatanen besonders eingeschärft:

„Sensus et ars medici curant, non verba sophista, Hic aegrum relevat curis, verbis necat iste."

(Nicht die Worte des Sophisten heilen, sondern die Vernunft und die Kunst des Arztes dieser hilft dem Kranken durch seine Kuren jener tötet ihn durch das Gerede.)

Der Arzt wird noch einmal an den Grundsatz der Schule von Salerno erinnert: „Consule naturam!"
Das "Regimen" war von seinem Autor sicherlich nicht zum Volksbuch bestimmt worden. Der Epilog, in dem der Arzt verflucht wird, der die Geheimnisse seiner Kunsi jedem Beliebigen mitteilt und sie auf diese Weise entweiht, spricht es deutlich aus. Wahrscheinlich sollte das "Regimen" ur sprünglich den Ärzten als ein leicht faßliches Lehrbuch der Hygiene und der Therapie dienen. Mit der Überhandnahme der scholastischen Medizin verlor es für die Lernenden immer mehr an Wert. Um so mehr Anziehungskraft aber gewann es für die, denen die neuen wissenschaftlichen Theorien zu kompliziert waren. So wurde es zum medizinischen Volksbuch, das bis in die neueste Zeit hinein die Volksmedizin beeinflußte; und bis heute kann man in hygienischen Gebräuchen und medizinischen Sprüchen der europäischen Völker die Vorschriften des Regimen Salernitanum wiederfinden.

Der Salernitaner Arzt
Von Dr. A. G. Chevalier

Wie sich Hippokrates in einigen seiner Schriften mit dem Arzt und seinem Verhalten dem Kranken gegenüber befaßte, so sahen auch die Meister der Schule von Salerno ihre Pflicht als Lehrer damit nicht erfüllt, daß sie ihren Schülern Kenntnisse beibrachten; sie betonten, daß zu einem vollkommenen Arzt mehr gehöre als nur gediegenes Wissen und daß der Erfolg der Therapie auch vom Benehmen des Arztes abhänge, ja schon von dem Eindruck, den er auf den Patienten mache. Diese Seite der ärztlichen Tätigkeit durchzudenken und festzulegen, lag den Salernitanern nahe, da das Mittelalter ja auf jedem Gebiet das Tun der Menschen in allen Einzelheiten zu regeln suchte.

So kommt es, daß in den Salernitaner Lehrbüchern sich immer wieder Bemerkungen über die Persönlichkeit des Arztes eingestreut finden. Das Werk des Archimathäus "De instructione medici" aus dem 17. Jahrhundert, ebenso wie das gleichzeitige anonyme "De adventu medici" enthalten neben Belehrungen in rein medizinischen Fragen auch solche über die Art, wie der Arzt mit dem Patienten und seiner Familie zu sprechen hat, und über sein Verhalten während des Krankenbesuches.
Wie der hippokratische, so ist auch der salernitanische Arzt fromm; kennen sie doch beide nur zu gut die Grenzen ärztlicher Kunst. Da es dem Arzt trotz gründlichster Untersuchung nicht immer gelingt, die Krankheit zu erkennen, so trachtet er schon auf dem Wege zum Patienten, vom Boten, der ihn geholt hat, möglichst viel über den Kranken und über alle in Betracht kommenden Umstände zu erfahren.
Der Arzt, der die Vorschriften der Salernitaner befolgt, ist, soweit es ihm die Mittel irgend erlauben, prächtig gekleidet und reitet auf einem Pferd, dessen Geschirr möglichst glänzend sein soll, weil, wie es im "Regimen" heißt, nur ein stattlich und reich aussehender Arzt ein großes Honorar verlangen kann.
Am Ziele angelangt, erkundigt sich der Arzt vor allem danach, ob der Patient gebeichtet hat, und läßt sich verneinenden Falles feierlich versprechen, daß er dies unverzüglich tun werde; so kommt er nämlich nicht in die Lage, den Patienten durch eine Frage nach der Untersuchung zu beunruhigen und ihm Todesängste einzujagen.
Damit entscheidet Archimathäus im Namen der Salernitaner eine Polemik, die damals zwischen den Ärzten und Theologen bestand. Die Kirche verlangte nämlich, daß man auch den Schwerkranken über seinen Zustand aufklären und ihn zur Erfüllung seiner religiösen Pflichten auffordern solle. Die Ärzte sträubten sich dagegen mit Rücksicht auf die Ruhe des Kranken und beriefen sich bei ihren Einwänden auf Galen, der dazu geraten hatte, in hoffnungslosen Fällen den Patienten unentwegt die Wahrheit über ihren Zustand zu verbergen. Die Anforderungen der Kirche waren streng; setzte sich ein Arzt in seiner Praxis über das Beichtgebot hinweg, oder starb einer seiner Patienten, ohne gebeichtet zu haben, so konnte der Arzt aus der Kirche ausgestoßen werden. Dadurch aber, daß die Ärzte ihre Patienten schon vor der Untersuchung zum Beichten veranlaßten, erhielten sie nach ihrer Ansicht das Recht, den rein medizinischen Standpunkt zu vertreten, nämlich dem Kranken Verschlimmerungen zu verheimlichen.

Dem Kranken gegenüber zeigt sich der Arzt so wohlwollend und teilnahmsvoll, daß jener den Eindruck erhält, ein Retter und Freund sei erschienen. Nachdem er ihn zuversichtlich gestimmt hat, untersucht er den Puls und geht dann zur Harnschau über. Eingehend prüft er Menge, Dichte und Farbe des Harnes, sowie die vorhandenen Trübungen, denn abgesehen davon, daß diese Beobachtungen für die Diagnose aufschlußreich sein können, ist es auch wünschenswert, daß der Patient und seine Umgebung die Gewissenhaftigkeit des Arztes bewundern können. Wie auch das Ergebnis der ersten Untersuchung ausfallen mag, der Arzt verspricht dem Kranken, daß er mit Gottes Hilfe bald genesen werde. Der Familie teilt er aber unter allen Umständen in ernstem Ton mit, daß es sich um einen schweren Fall handle; dadurch erhöht der Arzt sein Verdienst beim Gelingen der Kur und vermindert bei schlechtem Ausgang seine Verantwortung.
Die Therapie wird auch dann eingeleitet, wenn der Arzt sie für überflüssig hält. Denn, so meint Archimathäus, wenn der Kranke merkt, daß er ohne Zutun des Arztes gesund wurde, so kürzt er bestimmt das Honorar. Da das Diätetische an erster Stelle steht, so muß auch der Arzt für jede Einzelheit der Ernährung des Kranken Interesse zeigen; es ist auch gut, wenn er recht viel Kochrezepte kennt, und die Art versteht, wie man die Speisen dem Kranken servieren soll, damit sie seinen Appetit anregen. Der Abschied vom Kranken soll ernst sein, erst wenn er schon Rekonvaleszent ist, soll der Arzt gute Laune und Freude zeigen.
"Exige dum dolor est", fordere, solange der Schmerz besteht, heißt es im Regimen sanitatis. Wenn aber trotz aller Vorsichtsmaßregeln der Arzt am Ende der Kur sein Honorar nicht erhalten sollte, so rät der Maglster Salernus, einer der bedeutendsten Vertreter der Salernitaner Glanzzeit, dem Patienten statt Salz Alaun zur Bereitung der Speisen zu verschreiben, oder ihn auf irgend eine andere unauffällige Weise wieder krank zu machen, damit er seine Abhängigkeit vom Arzt zu spüren bekomme! Wenn die Salernitaner Ärzte, wie Archimathäus sie schildert, trotz aufrichtigen Bemühens um ein würdiges Betragen und eine hohe Berufsmoral zu solchen Listen greifen mußten, so lag dies daran, daß der ärztliche Stand damals vom Recht nicht geschützt war. Kein Gesetz bestimmte, was einem Arzt gebührte, aber auch keines legte ihm bestimmte Pflichten auf. Keine Behörde, die Kirche allein wachte über das Berufsleben des Arztes! Sie allein verlangte von den Ärzten Rechenschaft über ihre ärztliche Tätigkeit und zwar bei der Beichte. Sie untersagte ihnen aber auch, selbst in aussichtslosen Fällen, neue oder nicht unbedingt bewährte Mittel zu gebrauchen. So erklärt es sich, daß Rolandus von Parma (um 1240), ein Schüler des großen Salernitaner Chirurgen Roger Frugardi (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts) und ein bedeutender Praktiker, einmal den Erzbischof um Bewilligung zu einer schweren und ungewohnten Operation bitten mußte; selbst bei einem Mißlingen hätten ihn weder Gesetz noch die Fachgenossen zur Verantwortung ziehen können, sondern einzig und allein die Kirche.
Solange die Schule von Salerno noch klein war, wird der Mangel an genauer Regelung des ärztlichen Berufes keine ungünstigen Folgen gehabt haben. Im 13. Jahrhundert aber, als auf allen anderen Gebieten des sozialen Lebens alles bis ins Kleinste geregelt war, mochte die Anarchie, die in der Civitas Hippocratica herrschte, und von der schon zu Beginn des Jahrhunderts Gilles de Corbeil berichtet, besonders kraß gewirkt haben. So ist es begreiflich, daß der Kaiser Friedrich II. (1215-1250) der ein Förderer der Wissenschaften und ein Anhänger straffer Einrichtungen war, es unternahm, den ärztlichen Stand zu organisieren. In seinem berühmt gewordenen Erlaß von 1240 wird von den Studierenden mehr als nur die Ablegung des von König Roger II. (1130-1154) geforderten Examens verlangt. Der Kandidat, der in öffentlicher Versammlung von seinen Lehrern geprüft und für fähig zum ärztlichen Beruf erklärt wurde, mußte seine Zeugnisse mitsamt einer Bestätigung seiner legitimen Herkunft und seines makellosen Leumundes an den Kaiser selbst oder an seine Stellvertreter schicken. Von ihm erst erhielt er die gültige Bewilligung zur Ausübung der Praxis. Sie wurde ihm gleichzeitig mit dem Diplom erteilt, wobei er sich eidlich verpflichten mußte, daß er armen Kranken unentgeltlich beistehen und ihnen auch die Arznei geben würde. Weiter mußte er schwören, daß er sich in seinem Beruf ständig vervollkommnen und seine Pflichten treu erfüllen werde.


Ein ganz bestimmter Studiengang mußte absolviert werden, ehe man sich zum Endexamen melden durfte. "Da man die medizinische Wissenschaft nur dann verstehen kann, wenn man vorher etwas Logik gelernt hat", sagt Friedrich II., ganz unter dem Einfluß der arabischen Medizin, "so befehlen wir, daß niemand zum Studium der Medizin zugelassen werde, bevor er sich nicht drei Jahre hindurch mit Logik beschäftigt hat. Nach diesen drei Jahren mag er, wenn er will, zum Studium der Medizin übergehen. Auf letzteres muß er fünf Jahre verwenden und sich innerhalb dieser Zeit auch Kenntnisse in der Chirurgie erwerben, weil dieselbe einen Teil der Heilkunde bildet. Die Lehrer sollen während dieses Quinquenniums in ihren Vorlesungen echte Schriften des Hippokrates, Galen und Avicenna über die Theorie und Praxis der Heilkunde erklären". Außer der Anatomie, die bisher am Schwein studiert wurde, soll jeder Schüler einmal in seiner Studienzeit praktischen Übungen an einer menschlichen Leiche beiwohnen. Auch die Chirurgen müssen Studien nachweisen und Prüfungen ablegen, aber sie müssen schwören, daß sie nie innere Krankheiten behandeln werden.

Will der promovierte Arzt seine Wissenschaft lehren, so muß er vor diplomierten Fachlehrern und Reichsbeamten eine Zusatzprüfung ablegen, worauf er die von Friedrich II. eingeführten Auszeichnungen, Lehrbewilligung und Doktortitel erhält. Mit der "enia docendi" übernimmt der neue Lehrer die Pflicht, die Apotheken der Stadt Salerno zu beaufsichtigen und auch die vorschriftsmäßige Bereitung der Arzneien und ihre Verkaufspreise zu überwachen. Strengstens wird dem Salernitaner Doktor untersagt, von seiner Lehrerlaubnis außerhalb Salernos Gebrauch zu machen.
Werden dem Arzt von Staats wegen Pflichten auferlegt, so wird auch von Staats wegen für seine Ehre gesorgt. Es ist jetzt nicht mehr nur Sitte und Sache des guten Willens, daß man ihm gewisse gesellschaftliche Privilegien einräumt: sein Stand wird offiziell in einen höheren Rang erhoben. Er ist steuerfrei wie der Adel, und die Kleiderverordnungen erlauben ihm und seiner Frau das Tragen von farbigen Kleidern, von Schmuck und von gewissen Pelzarten, die den gewöhnlichen Bürgern verboten sind. Auch die Honorarfrage wird so geregelt, daß die Würde des Arztes unangetastet bleibt, das Honorar bedeutet nichts als eine kleine Entschädigung für die Anstrengung der Behandlung und die Mühen des vorausgegangenen Studiums; der Patient zahlt nicht den Dienst des Arztes, sondern er trägt ihm eine Schuld ab. Sowohl die Anzahl der Besuche, auf die der Patient Anspruch hat, als auch das Honorar, das dem Arzt dafür zukommt, ist festgesetzt, wodurch Arzt und Patient einander frei gegenüberstehen. Durchschnittlich besucht der Arzt seinen Patienten zweimal täglich und, wenn es der Kranke ausdrücklich verlangt, einmal in der Nacht. Er erhält für einen Besuch am selben Orte einen halben Goldtarenus (nach der von Neuburger im Jahre 1911 mitgeteilten Berechnung: 1.25 Mark). Wohnt der Patient außerhalb der Stadt, so zahlt er dem Arzt außer den Reisekosten 3-4 Goldtarene.

Der Arzt, den Salerno jetzt formte, war ohne Zweifel gebildeter als der Salernitaner Mediziner alten Schlages. Doch die ihm aufgezwungene philosophische Vorbildung entfremdete ihn der medizinischen Forschung und der Praxis, wie sie Hippokrates umschrieben hatte. Die Philosophie, die der Arzt aufnahm, war rationalistisch und dogmatisch und machte ihn zum Dialektiker, der am Krankenbett nicht den Tatbestand zu erkennen trachtete, sondern ihn nach bestimmten Prinzipien abzuleiten und logisch zu begründen suchte.
Die Studienordnung Friedrichs II. wurde auch von den anderen führenden medizinischen Fakultäten, namentlich von Paris, Montpellier und Bologna eingeführt. Dem Beispiel der verstaatlichten Salernitaner Schule ist es auch zuzuschreiben, daß sich, vom 14. Jahrhundert an, die Könige von Frankreich und England in die Angelegenheiten der Universitäten ihres Landes, die meistens kirchlichen Charakter trugen, einzumengen begannen. So ist Salerno, auch nachdem es aufgehört hatte, die maßgebende europäische Medizinschule zu sein, für die Gestaltung des ärztlichen Standes ausschlaggebend geworden und in ganz Europa wurde der Arzt nach dem Bilde geformt, das Salerno entworfen hatte.

Die Wiederentdeckung der Schule von Salerno

Die Schule von Salerno, die heute der Medizingeschichte als eine der wichtigsten Offenbarungen des wissenschaftlichen Geistes im Mittelalter gilt, blieb bis vor hundert Jahren fast ganz vergessen. Zwar waren einige ihrer Schriften den Fachleuten bekannt, doch genügten diese wenigen und unvollkommenen Dokumente nicht, um die tatsächliche Bedeutung der Schule von Salerno erkennen zu lassen.
Die Wiederentdeckung der Schule von Salerno ist einem glücklichen Zufall zu verdanken: Der Breslauer Professor A.W.E.Th. Henschel (1790-1856) fand in der Bibliothek des Breslauer Magdalenengymnasiums ein Compendium Salernitanum aus dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, das 35 Kapitel enthielt. Zwar waren es keine Originalwerke salernitanischer Meister, sondern nur Auszüge und Umarbeitungen, die eine Art Zusammenfassung der salernitanischen Medizin bildeten, doch genügten sie, um für die alte Civitas Hippocratica ein ungeheures Interesse zu wecken. Einige andere Forscher, der Italiener Salvatore de Renzi (1800-1872) und der Franzose Baudry de Balzac entdeckten eine Reihe von Originaltexten, die dann Charles-Victor Daremberg (Paris 1817-1872) und de Renzi im Jahre 1852 in Neapel als fünfbändige Collectio Salernitana (ossia documenti inediti et trattati di medicina appartenenti alla schuola medica Salernitana) herausgaben. Seitdem ist eine ungeheuer große Zahl von Veröffentlichungen über die Schule von Salerno erschienen, von denen nicht wenige sich in ihren Ergebnissen widersprechen. Die schon vorhandenen Dokumente wurden vermehrt durch die von dem Pharmakologen Piero Giacosa (Turin 1853-1928) im Jahre 1901 veröffentlichte Sammlung interessanter salernitanischer Schriften, die er selbst aufgefunden hatte.

Die ersten deutschen Übersetzungen des Regimen sanitatis Salernitanum

Sudhoff wies darauf hin, daß die Reihe der deutschen Inkunabeln mit den Übersetzungen des Regimen Salernitanurn eröffnet wurde; damit erhielt diese Schrift eine neue Bedeutung für das deutsche Sprachgebiet. Die ersten bekannten Übersetzungen ins Deutsche erscheinen seit dem Jahre 1474. Erwähnt seien die wichtigen Ausgaben bei Crewssner in folio 1474, 1481 (Augsburg), 1493 (bei Kachelofen in Leipzig), 1495, 15o8 (Regimen Salerni, continet 59 distich. Partim ex Schola Salerni; Nürnberg), 1509 (Brunschwig), 1519 (Straßburg) usw.
Viele der Übersetzungen enthalten bedenkliche Übersetzerfreiheiten und Nachlässigkeiten; auf sie sind manche der späteren Variationen im Regimen zurückzuführen. So wird z. B. in einer Übersetzung der lateinische Text: „Anglicorurn regi conscripsit schola Salernis" im Deutschen folgendermaßen wiedergegeben: "die schul zu Paris hat geschriebe un gesant."

Wie groß die Anhänglichkeit des deutschen Volkes, gegenüber dem Regimen war, beweist die Tatsache, daß noch im Jahre 1869, also mehr als 400 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Volksausgabe, eine neue durch J. Bücheler (Düsseldorf) verlegt wurde, die den Titel führt: „Regimen sanitatis salernitanum, d. i kurzgefaßte, dem Munde des Volkes angepaßte Diätetik in Versen."
Ob es sich hier um die letzte deutsche Ausgabe des Regimen handelt, konnte nicht
festgestellt werden.

Phantastische Heilvorschriften der Salernitaner

Zwar protestierten die Salernitaner gegen die komplizierten Medikamente der arabischen Pharmakopöe, doch finden sich bei ihnen häufig Heilvorschriften, die noch phantastischer sind als die der Araber.
Einige Zitate beweisen das:

Gegen Ohrenweh: Ein Abguß von Erdwürmern, die in Öl geweicht worden sind, soll warm ins Ohr getropft werden.

Gegen Abortus: Ein -Magnet muß um den Hals gebunden werden oder ein schwammiger Knochen von einem Eselskopf.

Gegen Magerkeit: Ein Huhn wird mit fetten Kröten genährt, die zerstückelt und mit Weizen zu kochen sind; vom Huhn sind die Teile zu essen, die denen des eigenen Körpers entsprechen, die man fetter haben will.

Gegen Kinderlosigkeit: Die Eheleute sollen gebackene Exkremente von Eseln verzehren.

Zeittafel

8. Jahrhundert v. Chr. Unteritalien wird von den Griechen kolonisiert. Es entstehen große Städte: Sybaris, Croton, Tarent. In Unteritalien wirkte im 6.Jahrhundert der Philosoph, Mathematiker und Arzt Pythagoras, im 5.Jahrhundert der Philosoph Zenon.

196 v. Chr. bemächtigen sich die Römer endgültig Unteritaliens und machen es zu einer Kolonie (Magna Graecia).

Vom 1. Jahrhundert v. Chr. an wird die Stadt Salerno von römischen Schriftstellern, namentlich von Horaz und Plinius, als Seebad erwähnt.

500 n. Chr. wird Salerno zum Bistum.

568 bemächtigt sich der Langobardenkönig Alboin der Stadt, die bis dahin erst zum ostgotischen Reiche gehörte, später unter Kaiser justinian (527-565) für kurze Zeit byzantinisch wurde.

644 gerät Salerno unter die Herrschaft der Fürsten von Benevent.

Ende des 7, Jahrhunderts wird in Salerno ein Benediktinerkloster gegründet. Vermutlich erste Ansätze zur „Schule von Salerno".

820 wird dem Kloster ein Spital angeschlossen.

849 wird Salerno nach dem Zerfall des Herzogtums Benevent Hauptstadt eines Fürstentums, das zum fränkischen und später zum Deutschen Reich gehört.

Im 9. Jahrhundert schon sind die Ärzte von Salerno berühmt.

974 wird Salerno Sitz eines Erzbischofs.

1075 kommt Salerno mit ganz Unteritalien unter die Gewalt des Normannen Robert Guiscard. Die normannischen Herrscher fördern das Ansehen und den Reichtum Salernos.

1084 erbaut Robert Guiscard die Kathedrale San Mattco, eine der schönsten Kirchen Süditaliens,

1130 wird Salerno dem Königreich Neapel und Sizilien einverleibt.

1140 erläßt König Roger (1130-1154) die Verordnung, nach der ein Examen für das Ausüben des ärztlichen Berufes nötig ist. Sein Hof steht unter arabischem Einfluß.

1154-1190 Wilhelm I. (1154-1166) und Wilhelm II. (1166-1189), Herrscher von Neapel und Sizilien, begünstigen den arabischen Einfluß. Der gleichzeitig regierende Deutsche Kaiser Rörnischer Nation Friedrich I., Barbarossa (1152-1190), bestellt in Toledo Übersetzungen aus arabischen Werken.

Mitte des 12. Jahrhunderts bestehen große Medizinschulen in Salerno.

1194 kommt das Königreich Neapel und Sizilien, dem Salerno angehört, an Kaiser Heinrich VI - (1190-1197). Unzufriedenheit unter den Einwohnern Salernos.

1195 Strafexpedition Heinrichs VI. gegen Salerno, das teilweise zerstört wird. Viele Gelehrte verlassen die Stadt und tragen ihr Wissen ins Ausland.

1220 wird Kaiser Friedrich II, (1215 -1250) König von Neapel und Sizilien. Er läßt arabische Autoren ins Lateinische übersetzen. Die Schule von Salerno wird staatlich.

1240 erläßt Friedrich II. eine Verordnung, die das medizinische Studium regelt. Die 1224 von ihm gegründete 
Universität von Neapel wird eine Rivalin Salernos.

1250 bis etwa 1266 herrschen die Söhne Friedrichs II.: Konrad (1250-1254), Manfred (1254-1266). Beide sind Anhänger der arabischen Kultur.

1266 kommt Salerno unter die Oberhoheit von Karl von Anjou (1266-1285), der die arabische Richtung fortsetzt. Ein in Salerno ausgebildeter jüdischer Arzt übersetzt in seinem Auftrag den "Continens" des großen arabischen Arztes Rhazes (etwa 850 bis etwa 932).

1442 bemächtigt sich das Haus Aragonien des Königreichs. Allmählicher Zerfall Salernos

1504 erobern die Spanier Salerno.

1713 erhalten die österreichischen Habsburger Salerno als Beute im Spanischen Erbfolgekrieg.

1808 erobert Joseph Bonaparte, der Bruder Napoleons, Salerno. Rasche Modernisierung.

1811 schliesst Napoleon die Schule von Salerno.

1815 gibt der Wiener Kongreß Salerno den Habsburgern zurück.

1846 entdeckt der Medizinhistoriker Henschel das Compendiom Salernitanum in Breslau.

1852 gibt Salvatore Renzi in Neapel die Salernitianischen Manuskripte als Compendium Salernitana heraus.

1860 erklärt sich eine Volksabstimmung in Salerno für den Anschluss an Italien.

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