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Hygiene im Mittelalter

Ciba-Zeitschrift Juni 1937

 
 

Der Mensch des Mittelalters
Hygiene in der mittelalterlichen Stadt
Zur individuellen Hgygiene im Mittelalter
Medizin- und Kulturgeschichtliches

 
   
 

Vorbemerkung

In der Geschichte des abendländischen Kulturkreises wird der Zeitraum vom "Untergang des Weströmischen Reiches" in der Mitte des 5. Jahrhunderts, bis um 1500 bzw. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, dem "Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen", als Mittelalter bezeichnet.

Die Geschehnisse des Mittelalters spielen sich also in einem Zeitraum von 1000 Jahren ab, in einem geographisch, ethnologisch, politisch und kulturell so vielgestaltigen Gebilde wie es Europa darstellt. Die Bezeichnung "Mittelalter" grenzt demnach nur unscharf ab. Nicht alles, was heute für das Mittelalter als kennzeichnend gilt, ist während des ganzen Mittelalters und gleichzeitig in ganz Europa kennzeichnend gewesen. Das trifft in gleicher Weise für Kulturelles wie Technisches zu und zeigt sich besonders deutlich in den hygienischen Zuständen, Forderungen und Bestimmungen der verschiedenen Abschnitte des Mittelalters. Gleiche oder sehr ähnliche hygienische Zustände, die gleiche oder ähnliche Reaktionen hervorrufen, mehren sich erst mit der Städtebildung, die infolge der verschiedenartigen geographischen und anderen Bedingungen ebenfalls nicht allerorts gleichzeitig, sondern in verschiedenen Zeitabschnitten einsetzte.

Das Ziel der Aufsätze dieser Nummer ist nicht, medizingeschichtliche Einzelheiten lückenlos aneinander zu reihen, sondern lediglich einige charakteristische Linien aus dem vielgestaltigen Bild der Hygiene des Mittelalters wiederzugeben. Daß man bei solchen zusammenfassenden Darstellungen, sei es in Grundsätzlichem, sei es in der Bewertung von Einzelheiten oder von Schlußfolgerungen manchmal anderer Auffassung sein kann als der Verfasser, ist naheliegend.

In späteren Nummern der Ciba Zeitschrift sollen bestimmte Abschnitte aus der Medizingeschichte des Mittelalters noch

ausführlich behandelt werden. Redaktion

Der Mensch des Mittlealters

Von Dr. A. G. Varron

Der Mensch des Mittelalters läßt sich mit einem streng erzogenen Kinde vergleichen: liebebedürftig und gewillt, dem Geforderten nachzukommen, voll Vertrauen, dabei verängstigt, von der eigenen Schwäche überzeugt und darunter leidend und glücklich über jede Aussicht auf Belohnung.

Die aus dem Norden eingedrungenen, kraftvollen Stämme, die sich vernichtend über das Römische Reich ergossen, hatten sich nach Jahrhunderte währenden Kämpfen in den eroberten Gebieten angesiedelt. Ruinen der alten Welt umgaben sie und überall begegneten sie den Überresten römischer Zivilisation. Noch in dem Wenigen, was von ihr übrig geblieben war, erwies sie sich den Siegern überlegen. Rom wurde zum Meister der germanischen Völker, die sich seinem Geiste unterwarfen. Dieses Eindringen des neuen Europa in die Kultur des alten dauerte Jahrhunderte und hatte mehrere Phasen. Die erste - voller Schwierigkeiten und Härten - ist das Mittelalter.

Alles, was die Welt im Altertum hervorgebracht hatte, was die Griechen in der klaren Luft ihrer Inseln erdacht, was Wüstenvölker in Ekstase erfühlt hatten, lebte in verdichteter Form in den Schriften der Kirchenväter weiter, deren Weisheit die Menschen der ausgehenden Antike zugänglich waren. Aber in der Weltstadt Rom, wo Nachkommen der Pyramidenbauer, Söhne der Männer, die den Wundertempel von Jerusalem errichtet hatten, wo Angehörige einstiger Weltreiche lebten, war die Nichtigkeit irdischer Erfolge augenfällige Tatsache geworden. Daß der Körper dem Geiste feind und alles Irdische nur Lug und Trug sei, hatten die an leiblichen Genüssen übersättigten Römer und ihre enttäuschten Philosophen schon lange erkannt und war ihren Armen nur zu verständlich. Die Abkehr von der Welt, die das Christentum gebot, fiel ihnen nicht schwer: die Botschaft vom jenseits gewährte Trost und verlieh dem Leben einen neuen, tiefen Sinn.

Wie unbegreiflich fremd jedoch mußte all dies den jungen Eroberern erscheinen, die eben erst siegreich die Welt entdeckt hatten und vor allem ihren ausdauernden Körpern ihre Macht verdankten.

Jedoch wie Kinder, die gerne und willfährigen Herzens ihnen unverständlichen Worten lauschen, unterlagen sie dem Zauber der neuen Lehre. Sich selbst verachteten sie, weil sie die Welt nicht so empfanden, wie es der verkündeten Weisheit gemäss als richtig galt, und besonders verachteten sie ihre Körper, diese gesunden und kräftigen, die es ihnen erschwerten, sich völlig von allem weltlichen abzuwenden. Jetzt sprachen sie ihnen jeden Wert ab, versteckten sie unter den Falten der Gewänder, verrenkten ihre Glieder, wenn sie sie in ihren Kunstwerken darstellten. Aber so manches Wort in mittelalterlichen Gedichten, die verstreuten Blümchen auf so manchen düsteren Pieta-Bildern oder Kreuzigungen, die rührende Abbitte, die sterbend der heilige Franziskus seinem "Bruder Körper" dafür tut dass er ihn zeitlebens so gequält hat, zeugen von der irdischen Liebe zum Leben, die das Mittelalter verdrängen musste, um den Forderungen der Glaubenslehre gerecht zu werden.

Das aber galt es um jeden Preis : aus Liebe zu Gottes Sohn, der für die Welt gelitten hatte und mehr noch aus Angst vor Strafe, im Jenseits, vor der Hölle. Stärker als alle anderen Gefühle war diese Angst. Sie beherrschte die Phantasie aller und ließ Bilder von Qualen entstehen, neben denen aller irdische Schmerz als harmloses Spiel erscheint. Der Hölle zu entrinnen war der Brennpunkt aller Gedanken.

Diesem Ziel zuliebe wird das Leiden gepriesen und die Krankheit als heilig betrachtet, wird Haus und Hof verlassen und in die weite Welt gewandert, wo Gelegenheit zu guten Taten winkt. Aber ebenso groß wie die Sehnsucht nach den Wonnen des Himmels, wo es keine höllischen Qualen mehr gibt, ebenso schwierig war es, das Seelenheil zu erlangen.

Wie einen Seefahrer im schwankenden Kahn auf stürmischem Meer, so sieht sich der Mensch des Mittelalters. Er ist von Gefahren umlauert, die umso drohender sind, je lustvollere Formen sie annehmen, und seinen Weg findet er nur, wenn er auf eigene Kraft verzichtet und gläubig die rettende Hand der Kirche ergreift.

Von der eigenen Hinfälligkeit ist der Mensch des Mittelalters überzeugt; unablässig denkt er an den Tod, der - allem Glanz ein Ende macht und alle Unterschiede irdischen Ranges aufhebt. Daher sind Demut, mitleidige Einsicht in die Unzulänglichkeit der anderen und Versenkung in die Glaubenssätze der Heiligen Schrift die Stufen zur rechten Erkenntnis. Nichts hat eigenen Wert, alles besteht nur im Hinblick auf Gott, nur als Gleichnis des Ewigen. Und so wird auch alles zum Symbol, von der Gestalt des Gotteshauses angefangen, die das Kreuz des Heilands versinnbildlicht und in den Türmen zwei Arme, die sich himmelwärts strecken, darstellt, von den Bewegungen bei der Messe bis zu den Trachten der Menschen, der Anordnung der Feste und allen Kleinigkeiten des Alltags. Alles ist vorbedacht und von vornherein nach Regeln bestimmt, die aus den obersten Gesetzen gefolgert werden und dem Bösen einen Riegel vorschieben sollen. In Staat, Stadt, Gesellschaft, Handel, Industrie, Krieg, bei traurigen und frohen Anlässen - überall ist alles festgelegt. Und jedes Gesetz, jede Lebensregel, ja selbst jede hygienische Vorschrift hat auch eine gewisse symbolische Bedeutung.

Dem Individuum, der freien Eingebung wird mißtraut. Sich stützen und sich anlehnen ist das Verlangen dieser entmutigten Menschen. Und kein Zeitalter und keine Kunst der Welt verherrlichten tiefer die mütterliche Frau, als es im Mittelalter aus dem Bedürfnis nach verzeihender Liebe und nach bergendem Schutz geschah.

Das jüngste Gericht, der Tag des Zornes - dies irae, dies illa - schwebt als Vision über der mittelalterlichen Menschheit. Schrecken vor der Gottesmajestät erfüllt sie, denn sie weiß sich schuldbeladen und ohne Rechtfertigung. "Rex tremendae maiestatis" heißt Gott in dem erschütternden kirchlichen Gesang, der verzweifelt nach Beistand in letzter Not ruft. Und leise regt sich die Hoffnung - Hic est Deus caritatis - barmherzig ist Gott. Erlösung belohnt die Seele, die immer strebend sich bemüht.

Verzehrende Angst, grenzenlose Zuversicht, dazwischen Stolz und Grausamkeit Andersgläubigen gegenüber, Wildheit und Feinfühligkeit, Tatendrang, Abtötung aller Eigensucht und ständige Sorge ums eigene Wohlergehen im jenseits, bedingungsloser Autoritätsglaube und dabei viel Neugier, Genußsucht und Energie - so lebt die europäische Menschheit tausend Jahre, Jahre ihrer Kindheit, zu Unrecht ihr Mittelalter genannt.

Hygiene in der mittelalterlichen Stadt

Von Dr. A. G. Varron

Im frühen Mittelalter gab es in Europa nur wenige Städte, die eine Einwohnerzahl von Hunderttausend erreichten: Rom, Florenz, Venedig, Barcelona, zeitweilig Toulouse. Bald wuchs Paris über sie alle hinaus. Im 14. Jahrhundert waren Gent und Brügge zwar Weltzentren, obwohl sie weniger Einwohner hatten als Mittelstädte von heute. Deutschland besaß keine einzige Stadt, die auch nur annähernd hunderttausend Einwohner gezählt hätte. Nürnberg, Augsburg, Köln waren kleiner als das heutige Gießen oder Meißen.

Die mittelalterliche Stadt eine Festung

Die Entstehung der mittelalterlichen Städte geht auf verschiedene Ursachen zurück. Manche entwickelten sich aus alten Römersiedlungen, andere bildeten sich um einen Bischofssitz oder eine weltlich-adelige Burg, an die sie sich schutzsuchend lehnten, oder wuchsen aus neu geschaffenen Grenzburgen heran. Freie kolonisatorische Niederlassungen, wie die frühen Handwerkssiedlungen in Flandern, die zum Kern einer Stadtgemeinde wurden, waren im mittelalterlichen Europa eine Seltenheit. In entscheidendem Umfang setzte die Städtebildung im 11. und 12. Jahrhundert ein. jede Stadt mußte sich gegen Überfälle und für Kriegszeiten schützen. Ihre Sicherheit beruhte auf ihren wehrfähigen Bürgern und den schützenden Befestigungen, die die Stadt wie ein Gürtel einschlossen. Viele hygienische Mißstände in den Städten kamen allein dadurch zustande, daß die an Bevölkerung zunehmende Stadt innerhalb der befestigten Mauern zu wenig Raum bot für die Neuzugezogenen. In den alten Römerstädten hatten die Römer mit ihrer weitverzweigten Verwaltungskunst und ihrer hochentwickelten Tradition hygienischer Maßnahmen vorgearbeitet, aber ihre hygienisch-technischen Einrichtungen (Wasserleitungen u.a.) verfielen oder wurden durch Kriegshandlungen zerstört, und die hygienischen Bestimmungen wurden im Drange der Stadtentwicklung vergessen. Alle Einrichtungen der mittelalterlichen Stadtverwaltungen für die Gesundheit ihrer Bürger, für eine hygienische Lebensbasis, mußten neu geschaffen werden.

Dabei hatten die Städte einen harten Kampf gegen ihre eigenen Bürger zu führen. Die herrschenden ländlichen Gewohnheiten standen mit den hygienischen Anforderungen, die das immer dichter werdende Nebeneinanderleben mit sich brachte, in krassem Widerspruch. Und nicht selten hielt man trotz der erkannten Notwendigkeit verschiedener Reinlichkeitsmaßnahmen starrköpfig am Altgewohnten fest. Vorschriften über Vorschriften und Strafandrohungen folgen einander und werden zu Vorstufen einer behördlich geregelten Sozialhygiene. Unterschiede in den erreichten Ergebnissen zwischen den einzelnen im Mittelalter auch kulturell miteinander wetteifernden europäischen Ländern feststellen zu wollen, wäre müßig; immerhin darf vielleicht die Stadtverwaltung von Paris als die auf hygienischem Gebiet fortgeschrittenste angesehen werden.

Wasserversorgung

Die wichtigste und nächstliegende volksgesundheitliche Aufgabe der mittelalterlichen Stadt war die Versorgung ihrer Einwohner mit der genügenden Menge einwandfreien Wassers. Waren es Flüsse, die das notwendige Trink- und Kochwasser lieferten, so findet man allenthalben - sei es nun der Tiber oder die Seine, der Rhein oder die Mosel - Aufforderungen an die Bürger, das Wasser nicht zu verunreinigen, keine toten Tiere hineinzuwerfen und keinen Unrat vom Flusse wegschwemmen zu lassen. Die Gerber sollen ihre Häute nicht im Fluß waschen, die Färber ihre Farbmittel nicht hineingießen und niemand soll seine Wäsche und Kleider darin reinigen (Douai 1271, Augsburg 1453, Rom 1468). Zur Versorgung der Stadt mit Trinkwasser gab es auf zahlreichen Plätzen Brunnen, um die herum sich das bunte Treiben der mittelalterlichen Stadt abspielte. In manchen Orten, besonders in deutschen und italienischen Ländern, waren sie künstlerisch besonders schön ausgestattet und wurden oft zum Wahrzeichen der Stadt. Aber auch hier mußte die Stadtverwaltung immer wieder durch hohe Strafen gegen Verunreinigung und groben Unfug ankämpfen. Gaben die Brunnen zu wenig Wasser, dann mußte an Zuleitung gedacht werden. Quellen in der näheren Umgebung wurden gefaßt und in Holzröhren (Basel 1266), im späteren Mittelalter in Bleiröhren, nach der Stadt geleitet.

Reinlichkeit der Strasse

Der nächste Kampf der Stadtverwaltung ging um die Reinlichkeit der Straßen. In allen Polizeiverordnungen kehrt stets, bald bittend, bald drohend, die Mahnung wieder: "Bürger, werft den Unrat Eurer Häuser nicht auf die Straße!" "Lagert den Mist nicht vor den Häusern Eurer Nachbarn ab! Vor Eurem eigenen Haus muß er alle acht Tage (Douai und Frankfurt a.M.) oder alle vier Tage (Nürnberg) weggeschafft werden." Wohin aber? Die Ablagerung in den Stadtgraben war ebenfalls untersagt. Es wurde verlangt, daß der Unrat ein Stück weit vor die Stadt hinaus geschafft werde. Das Wegschaffen des Unrats war im Mittelalter ein sehr wichtiges gesundheitstechnisches Problem. Es darf nicht übersehen werden, daß damals in einem Haus viel mehr Abfälle zusammenkamen als heute. In der mittelalterlichen Stadt war die Lebenshaltung des einzelnen dem Landleben noch innig verbunden, und anfangs waren die städtischen Häuser den Häusern in den Dörfern völlig gleich. Auch später noch hatte nicht nur das Königsschloß in Paris, sondern auch manches Bürgerhaus seine Scheune. So gab es z. B. in Frankfurt a. M. um 1400 noch mehrere hundert Scheunen. Wenn auch die Scheunen allmählich in die Außenbezirke der Städte verlegt wurden, die Ställe für Kühe und Schweine blieben im Haus und waren nicht selten der Straßenseite zu gelegen. Erst zu Beginn des 15.Jahrhunderts kommt es in einigen Städten (z.B Frankfurt a.M., Breslau) zu einem ausdrücklichen Verbot, Schweineställe nach der Straßenseite anzulegen; in Berlin wurde ein ähnliches Verbot erst 1641 erlassen. Die Keller waren reich versorgt, die Weinzubereitung ging nach der Weinlese im Hause vor sich. Die Aufforderungen der Stadtverwaltungen, dieWeinfässer nicht auf der Straße aufzustapeln und dadurch den Verkehr zu behindern, häuften sich. Was aber außer der Menge der Abfälle vor allem noch zur Verunreinigung der Straße beitrug, war, daß die Bürger es nicht aufgeben wollten, in grosser Zahl Tiere zu halten, wie Gänse, Enten und Schweine.

Die Schweine waren im Mittelalter eine wahre Stadtplage und nicht selten die Ursache von Verkehrsunfällen. Philipp, ein Sohn des französischen Königs Ludwig des Dicken (12. Jh.) starb an den Folgen eines Reitunfalles, der dadurch hervorgerufen wurde, daß ein Schwein, mitten in der Stadt, vor den Toren des königlichen Schlosses, sein Pferd zum Scheuen gebracht hatte. Erst im 15. Jahrhundert wurde in Ulm, Frankfurt a.M., Nürnberg und anderen Städten verboten, Schweine frei auf den Straßen herumlaufen zu lassen, und bestimmt, daß kein Bürger mehr als 24 Schweine halten dürfe.

Der Kampf, den die Stadtverwaltungen gegen die Unsitte der Tierhaltung in der Stadt führten, spiegelt sich in einer großen Zahl von Edikten wider. Im übrigen ist kennzeichnend, daß der verdienstvolle Stadtarzt von Frankfurt a.M., Joachim Struppius (1530 bis 1606) 1573 (!) energisch verlangte, daß das Ausgießen von Urin auf die Straßen verboten werden müsse. Ein gewisser Fortschritt in der Reinlichkeit der Straßen wurde durch die Einrichhtung städtischer Schlachthäuser erreicht, nur in ihnen durfte das Töten von großem Vieh erfolgen. Die erste hierauf Bezug nehmende Urkunde stammt von Augsburg aus dem Jahre 1276.

Zuweilen nahm der Straßenschmutz derart überhand, daß die Priester nicht in den Dom gelangen und die Ratsherren nicht zu ihren Sitzungen erscheinen konnten und in manchen Städten ein Paar Stelzen zur Frühlingszeit zur notwendigen Ausrüstung eines jeden Bürgers gehörte. Diesem Übelstand zu steuern, versuchte man es mit der Pflasterung der Straßen. Auch sie wurde zuerst in Paris eingeführt und zwar schon um das Jahr 1185. Prag erhielt seine Straßenpflasterung erst 1331, Nürnberg 1368, Basel 1387 und Augsburg im Jahre 1416.

Kanalisation

Eine wichtige Etappe der öffentlichen Gesundheitspflege bildet die Einführung der Kanalisation, der Ableitung von Abwässern in gedeckten Gräben. Mit der Reinigung der Kanäle waren in den deutschen Städten meist Totengräber betraut, in Paris waren es die in mancherlei Zeitgedichten verspotteten "maitres fifi". Die Stadt ließ die Reinhaltung der Häuser überwachen. In Paris mußte in jedem größeren Haus zwangsweise ein "cabinet d'aisance" mit einer Ableitung in den Kanal sein. Die Bestrafung Zuwiderhandelnder war drakonisch. Wer sich nicht innerhalb von drei Monaten den neuen Hausvorschriften fügte, dessen Haus wurde beschlagnahmt und mit dem Erlös die notwendige Einrichtung durchgeführt. Um die Widerspenstigen herauszufinden, wurden Angeber reichlich belohnt.

Bauvorschriften

Die Straße sollte aber nicht nur rein sein, sie sollte auch einen ungefährdeten Verkehr gewährleisten. Und wenn es auch in manchen Städte-Urkunden heißt: "jeglicher Bürger soll seinem Nachbar ein Bruder sein", so hinderte das die Stadtbewohner nicht, nach ihrem eigenen Kopf und ohne Rücksicht auf die Nächsten vorzugehen. Der eine baute seinen Laden so weit in die Straße vor, daß er sie beinahe versperrte, der andere baute vor seinem Haus einen abschüssigen Eingang zum Keller, eine häufig geübte Methode, die viele Unfälle zur Folge hatte und in manchen Städten im 14. Jahrhundert verboten wurde. Auch die oft zu weit vorgebauten Hausvorsprünge, die der Verwitterung ausgesetzt waren und leicht abbröckelten, wurden zur Gefahr für Vorbeigehende. Die unzähligen Bauverordnungen der Zeit bemühen sich, die Launen persönlicher Willkür zu zügeln. Zu jeglicher baulichen Veränderung an den Straßenseiten der Häuser, zur Anbringung von äußeren Stiegen, Läden, Erkern und Balkonen, Giebeln und Vordächern, war die Einwilligung der Aufsichtsbehörde erforderlich. Überall wurden Verordnungen erlassen, deren Durchführung von der Macht der städtischen Verwaltung abhing.

Der Markt

Schauplatz und Mittelpunkt des mittelalterlichen Städtelebens war der Markt. Auf ihm konzentrierte sich der Handel, hier wurde Gericht gehalten. Zusammenkünfte, Versammlungen, Aufstände von Verschworenen, - das ganze öffentliche Leben spielte sich hier ab. Nahrungsmittel und Leckerbissen wurden feilgeboten, aber auch Stoffe, Schuhe, Leder, Töpfereien usw. In manchen Städten, besonders in Italien, stellten die Wechsler auf dem Markte ihre Buden auf. Für die Reinlichkeit des Marktes wurde so gut als möglich gesorgt, da man erkannt hatte, daß dort, wo Lebensmittel verkauft werden, leicht gefährliche Krankheitsherde entstehen können. Deshalb galt auch die besondere Fürsorge der städtischen Gesetzgebung dem Markte. ln Florenz z.B. wird bestimmt: An jedem Abend sind der Neue und der Alte Markt von Knochen und Abfällen rein zu fegen. Donnerstag abends und am Vorabend jedes kirchlichen Festes müssen alle Tische, Bänke und Zelte weggeräumt werden, damit eine gründliche Säuberung vorgenommen werden kann. Um den Markt wurde gleichsam ein Sauberkeitskordon gezogen, denn auf tausend Schritte im Umkreis war Schuttablagerung streng verboten, und die Buße bei Übertretung war besonders hoch.

Einwandfreie Nahrungsmittel

Nicht nur vor minderwertigen Nahrungsmitteln versuchte die Stadt ihre Bürger zu schützen. Sie mußte auch dafür sorgen, daß die Nahrungsmittel in genügenden Mengen vorhanden waren. Das galt vor allem zu Zeiten von Krieg und Mißernten. Aber auch in ruhigen Tagen kam es häufig zu Getreidenot und zu bedrohlichem Knappwerden anderer Nahrungsmittel, was zu empfindlichen und oft lange dauernden Teuerungen führte, wenn es der Stadtverwaltung nicht gelungen war, rechtzeitig vorzusorgen. Die strenge Handhabung der mittelalterlichen Lebensmittelschau ist ein eindrucksvolles Kapitel aus der Geschichte der Hygiene. Gewiß, es handelte sich dabei lediglich um den Schutz einheimischer Konsumenten, denn dem Fremden durfte alles verabreicht, alles verkauft werden.

Aus den unzähligen Verordnungen einige Beispiele: In Florenz war es verboten, Fleisch, das schon am Sonnabend zum Verkauf ausgelegen hatte, am Montag wieder feilzubieten. Fischhändler durften zur besseren Kontrolle ihrer Ware die Fische nirgends anders als auf dem Markte absetzen. In Zürich durften nicht verkaufte tote Fische am Abend nicht zurückbehalten, sondern mußten weggeschafft werden (1319), in Luzern durften sie gar nur von einer Essenszeit zur andern feilgeboten werden. In Basel durften die nicht verkauften Fische nur auf einer Freibank, einem bestimmten Verkaufsstand, der mindere Qualitäten feilhält, nochmals zum Verkauf ausgeboten werden, aber nur an Fremde (Anfang des 13. Jahrhunderts). Augsburg hatte schon 1276 bestimmt, daß nicht einwandfreies Fleisch kenntlich gemacht und auf einer besonderen Bank verkauft werden müsse. Im Gegensatz zu derartig einsichtsvollen Bestimmungen stehen die Anweisungen mancher Städte, Fleisch kranker Tiere dem Spital zu überweisen (Straßburg 1435).

Das Hospital

Dies alles waren Maßnahmen, um den Bürger vor Krankheiten zu schützen. Die Sorge für die Kranken selbst lag im frühen Mittelalter ausschließlich in den Händen der Geistlichkeit, vor allem der Mönche, die häufig medizinisches Wissen und Erfahrungen in der Krankenpflege besaßen. Den größeren Klöstern, deren Hauptaufgabe die Liebestätigkeit war, war meist ein Hospital angegliedert. Hier konnten Kranke Zuflucht suchen, doch nahm man auch Schwache und Bedürftige, Pilger und Reisende auf. In den Bodenseeklöstern saßen im frühen Mittelalter Mönche, die schrieben und lasen und den überkommenen Schatz an Bildung schlecht und recht wahrten und erweiterten. Sie waren es auch, die als erste dauernd eine ärztliche Tätigkeit ausübten. Die Bedeutung des klösterlichen Hospitals trat erst zurück, als die Städte anfingen, eigene Krankenhäuser zu errichten, für die Ärzte und Chirurgen von der Stadt angestellt wurden. Meist verdankten sie ihre Entstehung frommen Stiftungen von Fürsten oder reichen Bürgern, die für Bau und Instandhaltung sorgten. Folgende Zahlen mögen die Häufigkeit von Spitälern in einigen mittelalterlichen Städten veranschaulichen: Florenz besaß im 14. Jahrhundert 30 Krankenhäuser mit ungefähr 1000 Betten, Avignon zur selben Zeit 16 Spitäler. Unter Spitälern waren aber auch andere Wohlfahrtseinrichtungen zu verstehen, wie Findelhäuser, Nachtasyle, Versorgungshäuser und Heime für gefallene Mädchen. Aus den Statuten der Krankenhäuser geht hervor, daß man um die Schaffung einer liebevollen Atmosphäre bemüht war. Für bekömmliche Nahrung und reines Bettgewand wurde besonders nachdrücklich gesorgt. Neben dem Bett des Kranken sollten stets ein Schafspelz, Pantoffeln und eine Wollmütze bereit liegen. Die zur Krankenpflege bestimmten Brüder werden ermahnt, mit den Kranken geduldig umzugehen. Es galt der Grundsatz, dem Kranken jeden Wunsch zu erfüllen, was allerdings viel eher moralisch-religiöser Anschauung entsprach, als daß es sich medizinisch rechtfertigen ließ. Doch sollten die Pflegenden dem Kranken zureden, nichts Unvernünftiges zu verlangen.

Paris besaß schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts ungefähr 40 Krankenhäuser und ebensoviele Leprosorien; die größeren Spitäler verfügten über 20 Betten, die jedoch oft nur Matratzen gewesen zu sein scheinen, die auf Stroh oder einfach auf die Erde gelegt wurden. Die Ausstattung eines Spitales, soweit aus den noch erhaltenen Inventaren geschlossen werden kann, bestand ferner aus Bettzeug, Tischtüchern, Handtüchern - und zwar für alle Kranke gemeinsam am gemeinsamen Waschtisch-, zahlreichen Badebottichen, Kücheneinrichtung mit allem Zugehör. Eine Kapelle war fast immer dem Spital angeschlossen, auch ein Priester stand stets zur Verfügung. Doch hatten nicht alle Spitäler einen Arzt, da sie vielfach den Charakter von wohltätigen Verpflegungsanstalten beibehielten.

Die Anstellung der Stadtärzte an den Spitälern unterlag einer genauen Regelung. Sie wurden von der Stadt mit einem festen Gehalt entlohnt, mußten einen Eid leisten, Armen und Reichen gleichermaßen ihre Hilfe angedeihen zu lassen und im Falle einer Epidemie die Stadt nicht zu verlassen, sondern treu auf ihrem Posten auszuharren. Von den reichen Kranken wurde der Arzt jedoch noch honoriert. Neben den Stadtphysici, von denen der Nachweis einer Universitätsausbildung verlangt wurde, gab es noch besoldete Stadtwundärzte, die lediglich praktisch geschult waren.

Apotheken

Apotheken mußten nicht erst von der Stadt geschaffen werden, denn die Pharmazie war damals ein besonders einträgliches Geschäft. Immerhin gab es noch im 15. Jahrhundert in Deutschland Städte und Landschaften ohne Apotheken. Die Stadtverwaltungen beschränkten sich darauf, das Verhältnis der Apotheken zu den Ärzten zu regeln, ihre Tarife zu bestimmen und einen Eid über die redliche Ausübung des Apothekerberufes zu verlangen. In der ältesten deutschen Apothekerordnung, der von Basel, die in den Jahren 1271 bis 1322 entstand, wird u. a. dem Apotheker die Behandlung von Kranken untersagt.

Schutz der Schwangeren

Maßnahmen zum Schutze werdender Mütter tauchen zum ersten Male in Dokumenten vom Ende des 13. Jahrhunderts auf, Bedürftige schwangere Frauen wurden sechs Wochen vor der Entbindung im Spital aufgenommen. Außerdem sorgte die Stadt dafür, daß die städtischen Hebammen den armen Frauen ebenso wie den reichen Hilfe leisteten. Die Hebammen hatten, ähnlich wie die Ärzte, einen Eid abzulegen. Ausführliche Hebammenordnungen reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Die Maßnahmen zum Schutz der Schwangeren und die Hebammenverordnungen setzten sich nur langsam und in wenigen Städten durch, so daß das Leben der Schwangeren und das des Neugeborenen vor allem in den minderbemittelten Kreisen bedroht blieben.

Das Baden

Eine andere städtische Einrichtung gab es noch, die im Leben der Bürger einen wichtigen Platz einnahm, und dem Vergnügen als der Hygiene diente: Das Badehaus. Badestuben wurden schon im 13. Jahrhundert in allen Städten benutzt, wahrscheinlich auch in den größeren Dörfern. Arme gossen sich mit warmem Wasser ab, Reiche ließen sich vom Bader in tiefen, bottichartigen Wannen mit Lauge abreiben. Auf das Reinigungsbad folgte meist noch eine Art Schwitzbad: auf heiße Steine wurde Wasser gegossen und dadurch so dichter Dampf erzeugt, daß der Badende bald in Schweiß kam; dann wurde er nochmals vom Bader abgegossen. Essen und Trinken, Mädchen und Musik gaben diesen Badestuben immer mehr den Charakter von Vergnügungsorten, und schon früh führte die Geistlichkeit einen heftigen Kampf gegen die Auswüchse des Badelebens. Erst im 15. Jahrhundert fand eine Trennung in Männer- und Frauenbadanstalten statt. Wie sehr aber das Bedürfnis nach dem Reinigungsbad auch unter den niedrigen Ständen ausgeprägt war, zeigt die Sitte, daß für kleine Dienste und Hilfeleistungen oft ein sogenanntes Badegeld verabreicht wurde. Aus allen mittelalterlichen und späteren Vorschriften und Beschreibungen gewinnt man den Eindruck, daß der mittelalterliche Mensch mehr auf Sauberkeit und Körperpflege gab als die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts. Vielleicht mag zu dem späteren Abflauen der Bemühungen um die Gesundheit die allmähliche Schließung der Badestuben wesentlich beigetragen haben. Die immer größer werdende Ausbreitung der Syphilis, der Pest und des Aussatzes und die Stellung der Kirche trugen ebenfalls dazu bei. Auch scheint es nur spät und ungenügend gelungen zu sein, Kranke vom Besuch der Badestuben auszuschließen, so daß diese zu einem Herd ansteckender Krankheiten wurden.

Überblickt man rückschauend die ganze Fülle mittelalterlicher Hygienevorschriften und Maßnahmen, die unermüdlichen Versuche, die Nachlässigkeit der Bürger zu bekämpfen, die Errichtung von Spitälern, die Anstellung von Ärzten, so erkennt man ein großes, Achtung erheischendes Werk sozialer Hygiene. Umso eindrucksvoller wirken die Versuche zu einer Rationalisierung der Hygiene, als sie in einer Welt voll ungezügelten Aberglaubens unternommen wurden. Fast immer war es die Kirche, die den ersten Anstoß zur Entwicklung eines Zweiges des öffentlichen Gesundheitswesens gab. Für sie standen allerdings nicht die medizinisch-hygienischen, sondern die sittlichen Fragen im Vordergrund. Die Verbindung von Priester und Arzt war dem Volke selbstverständlich, und bis ins 18. Jahrhundert waren Mönchsärzte neben den weltlichen Ärzten tätig. Daß Wunderärzte und die tränkebrauenden, heilkundigen Frauen sich im Mittelalter eines großen Zulaufs erfreuten, ist leicht verständlich. Aberglauben und wissenschaftliche Hygiene bestanden durch viele Jahrhunderte nebeneinander, und es hat eines viele Jahrhunderte währenden Kampfes bedurft, bis die wissenschaftliche Gesundheitspflege sich endgültig durchsetzen konnte.

 

Zur individuellen Hgygiene im Mittelalter

Von Dr. A. G. Varron

Der Laie

Trotz Grauen und Schrecken, die Krieg und Pestilenz brachten, trotz des Bewußtseins von der Nichtigkeit des irdischen Daseins und der Angst vor dem jüngsten Gericht, hat die mittelalterliche Menschheit noch ein zweites Antlitz: das einer heiteren und genußfrohen, die das Leben in allen seinen diesseitigen Freuden liebt und es entsprechend einzurichten bestrebt ist. Neben der Abkehr vom Diesseits und dem Glauben an Strafe oder Erlösung im jenseits als einziger Wahrheit steht jauchzende Lebensbejahung.

Weit mehr, als wir es ahnen können, wenn wir die mittelalterlichen Kunstwerke betrachten, in denen alles Körperliche nur mit Scheu und oft symbolhaft behandelt ist, beschäftigte sich der mittelalterliche Mensch mit der Pflege seines Körpers und mit tausenderlei Erleichterungen seines Alltags. Deshalb war er hygienischen Anschauungen und Forderungen, die sich auf ihn als Einzelwesen bezogen, zugänglich. So setzte sich allmählich auch in den breiten Bevölkerungsschichten die Überzeugung durch, daß "die Vergewaltigung der Naturanlage" an einem frühen Tod schuld sei und daß der Mensch durch eine richtige Lebensweise seine natürliche Altersgrenze, das 70. Jahr, erreichen könne, ja, daß sie noch über den Tod hinaus in irgendeiner Form wirksam bleibe.

Hygienische Vorschriften gelten schon der werdenden Mutter; ihre Ernährung und Lebensweise muß dem Kinde, das sie erwartet, angepaßt sein. Sie soll Gram und Ärger von sich fernhalten und ein gleichmäßiges Gemüt bewahren. Sie soll nichts Schwerverdauliches essen, nicht zu viel auf einmal zu sich nehmen und lieber häufiger essen. Scharfe, gewürzte Speisen sind zu vermeiden, denn eine weit

verbreitete Ansicht war, daß sonst dem Kinde Nägel und Haare nicht wachsen würden.

In den mittelalterlichen Vorschriften für die Entbindung mischen sich eine Fülle guter Ratschläge von praktischer Weisheit mit solchen, die medizinisch unzulänglich sind. Das Kind spielt in allen Vorschriften die Hauptrolle. Wiege, Tücher und ein kleiner Trog sind hergerichtet. Das Neugeborene wird, nachdem die Nabelschnur mit einem Faden abgebunden und ein Verband aus Leinenstreifen, die in Olivenöl getaucht wurden, um seinen Körper angelegt worden ist, gebadet. Ein Tropfen Olivenöl kommt auf seine Augen; Nase und Ohren werden ihm gereinigt. In allen mittelalterlichen Vorschriften für Mutter und Kind wird erwähnt, daß die Pflegeperson reine Hände haben soll und auch geschnittene Nägel, um das Kind nicht zu verletzen. Dem Neugeborenen ist Kälte besonders nachteilig, daher muß es sorgfältig warm gehalten werden. Es darf nicht neben der Mutter schlafen, da die Gefahr, daß es erdrückt werden könnte, groß ist. Die Wiege, in die es gelegt wird, soll recht weich sein, aber nicht zu warm. Um den Gliedern des Kindes einen schönen Wuchs zu sichern, werden Hände und Arme ausgestreckt und gewickelt, ebenso die Beinchen und selbst der Kopf. Die ersten Tage soll das Kind im Dunkeln liegen, damit das grelle Licht den Augen nicht schaden kann. Zwei- bis dreimal am Tage soll es gereinigt, jeden Tag gebadet werden, wobei besonders dafür gesorgt wird, daß kein Wasser in die Ohren kommt. Um die Geschmeidigkeit der Glieder vorzubereiten, sind im Bade leichte Übungen vorzunehmen, das rechte Händchen des Säuglings wird zum linken Fuß gebracht, das linke zum rechten und auch die Beinchen sollen in den Kniegelenken leicht bewegt werden, damit das Kind einst ein guter Reiter werde.

Das Kind soll, wenn irgend möglich, von der Mutter ernährt werden. Mutter oder Amme sollen sich vor dem Stillen die Brust waschen. Verweigert das Kind in den ersten Tagen die Brust, so gibt man ihm vor dem Anlegen ein wenig Honig in den Mund - ein Gebrauch, der sich in manchen ländlichen Gegenden Europas bis heute noch erhalten hat. Abgestillt wird zwischen dem ersten und zweiten Jahr. Ein Spruch aus einem Gesundheitsbüchlein lautet:

 

"Mit dem Aufgang der Zenen

Muß ich mein Kind entwenen."

Die Kost, die auf das Stillen folgt, ist in allen Gesundheitsbüchern genau vorgeschrieben und besteht hauptsächlich aus süßen Breien. Zahllose Vorschriften gibt es, um das Zahnen zu erleichtern, ebensoviele für das Sprechenlernen "langsamer" Kinder und für das Gehenlernen. Bis zum 7. Jahr wurde das Kind besonders behütet, viel mehr als heute. Dann trat ein jäher Wechsel ein, und nach der ersten, hauptsächlich dem Beschützen gewidmeten Periode kommt die Zeit der Stählung des Körpers und der Abhärtung. Daß diese und andere Vorschriften nur von den Adeligen und wohlhabenden Bürgern befolgt und nicht von dem armen Volke beachtet werden konnten, ist selbstverständlich.

Auch über die Regelung des Lebens der Erwachsenen berichten die auf uns gekommenen mittelalterlichen Traktate. Wohnen, Essen und Reinlichkeit des Körpers sind die drei Gebiete, auf die sich die individuelle Hygiene erstreckt.

 

"Die Luft, darin du wohnst sey liecht, rein von gift und stinke nicht",

heißt es in einer solchen hygienischen Vorschrift. Im frühen Mittelalter konnten diese hygienischen Ratschläge wohl kaum befolgt werden. Später allerdings, mit der Erstarkung des Bürgertums und den Vorbildern, die Kirchen und Klöster, Rat- und Zunfthäuser boten, wies das städtische Bürgerhaus besondere bauliche Vorzüge auf, zu denen ein ausgesprochener Wohnluxus trat. Dieser Luxus, der sich in reichgeschnitzten Möbeln, Wandbehängen, Teppichen und vielerlei Kunstgegenständen kundtat, stand allerdings oft in schroffem Gegensatz zu den hygienischen Einrichtungen.

Der festungsartige Charakter der meisten Städte bedingte bei dem stetigen Bevölkerungszuwachs das Wohnen auf sehr engem Raume. Enge, lichtlose Gassen, die sich zwischen "Wohntürmen" zwängten, kennzeichneten diese Festungsstädte. Das Wohnen in den meist sehr niedrigen Räumen mit den kleinen Fenstern wird der Gesundheit nicht besonders zuträglich gewesen sein. Wie im französischen Dixhuitième an Königsschlössern und Fürstenhöfen neben raffiniertestem Luxus oft unbeschreiblicher Schmutz herrschte, so waren auch im Schloß, in der Burg und im bürgerlichen Wohnhaus des Mittelalters neben verfeinerter höfisch-ritterlicher Kultur die primitivsten hygienischen Verhältnisse zu finden.

Die Fenster bestanden im frühen Mittelalter noch aus einfachen Luken, die nur schwer durch Holzverschläge und Vorhänge verschließbar waren, und die bunten, mit Blei eingefaßten Glasfenster, die sogenannten Butzenscheiben, waren noch im späten Mittelalter eine kostbare Seltenheit. Der Mangel an lichten Räumen mußte die Beleuchtung zu einem besonderen Problem machen. Der Kienspan des frühen Mittelalters wird durch die Talgkerze ersetzt, die in Laternen oder Hängeleuchtern steckte, häufiger aber noch durch die mit Fett oder Tran gefüllte Lampe, deren Qualm, von allem anderen abgesehen, die Schleimhäute des Auges und der Nase reizte.

Das Heizen, das zu Beginn des Mittelalters nur in einfachen Herdstätten geschah, erfolgte erst nach langsamer, Jahrhunderte beanspruchender Entwicklung in zweckmäßigerer Art. In deutschen Ländern bürgerte sich allmählich eine primitive Form des Kachelofens ein, in Frankreich und in südlichen Gegenden der Kamin. Die offene Feuerstätte, die uns oft auf mittelalterlichen Miniaturen begegnet, mag wohl keine Seltenheit gewesen sein. jedenfalls bildete die große heizbare Stube (das Wort Stube wird von extufa = Ofen abgeleitet) den Mittelpunkt des gut ausgestatteten Bürgerhauses. Meist wurde mit Holz geheizt, seit dem 14. Jahrhundert wurde in manchen Städten - in Deutschland in Lüttich und Aachen - Kohle verwendet. Der Rauch zog durch eine Dachluke ab, erst am Ende des 15. Jahrhunderts werden Rauchfänge obligatorisch.

Die Unsauberkeit in den Wohnstuben wird meist als sehr groß geschildert. Wände und Fußböden waren feucht, wogegen man sich mit Wandbehängen und Teppichen schützte, ein Luxus jedoch, den sich nur die Reichen leisten konnten. Waschtische hat es kaum gegeben, dagegen in den größeren Häusern Badekufen, deren Benützung schon durch das lange Tragen des Leibzeuges unerläßlich wurde. Aborte fehlten meist, was sicher, wie auch die Unreinlichkeit der Stuben, dazu beitrug, daß die Seuchen sich in den Städten so schnell ausbreiten konnten.

Ist in den mittelalterlichen Hygienetraktaten nur wenig über die Sauberkeit des Wohnens zu finden, so spielten Essen und der Gesundheit bekömmliche Nahrung eine umso größere Rolle. Genußsucht und allzu große Üppigkeit veranlaßten immer wieder Mahnungen zur Mäßigung. Nicht zu viele Speisen auf einmal soll man essen, heißt es da - "es können auch in einem Küchentopf nicht gleichzeitig verschiedene Gerichte gargekocht werden". Die Grundlage der Nahrung sei: "Gutes, einen Tag altes Weizenbrot, Braten und guter Wein". Der Speisezettel soll sich nach der Jahreszeit richten: Geflügel, Fische, Salat, Ziegenmilch und alter Wein für das Frühjahr, Obst mit leichtem Wein im Sommer, Obst als Zutat und starker Wein im Herbst; im Winter muß man die Wärme des Körpers durch heiße Getränke steigern und mehr Fleisch zu sich nehmen als zu anderen Jahreszeiten. Die Speisen sollen nicht zu heiß und nicht zu kalt gegessen werden; sie werden in zinnernen oder hölzernen Schüsseln aufgetragen, meist mit den Fingern gegessen, was bei größeren Mahlzeiten das Herumtragen von Waschbecken und Handtuch unerläßlich machte. Bei flüssigen Gerichten nahm ein jeder, mit Zuhilfenahme eines Löffels, aus derselben Schüssel. Die wichtigsten waren Wein, in deutschen Gegenden Wein und Bier, aber auch Wasser galt als gesund, wenn es "Farblos, geruchlos und geschmacklos" war. Wie sehr sich Völlerei und Trunksucht zu Ende des Mittelalters steigerten, zeigen die vielen Verordnungen, mit denen vom 15. Jahrhundert angefangen, Obrigkeit und Kirchenbehörden einzuschreiten versuchten. Auch in zahlreichen Volksbüchern werden die Gefahren des Alkoholismus eindringlich geschildert.

In den Schriften, die über die Gesundheitspflege belehren, wird auch der Schlaf ausführlich behandelt. Den mittelalterlichen Anschauungen entsprechend schützt ein guter Schlaf vor Krankheiten und erzeugt die guten Körpersäfte. Zorn und Leidenschaften, die von zu reichlichem Genuß der Speisen kommen, werden vertrieben. Es gibt allerlei Vorschriften, wie man beim Schlafen liegen soll, wer diese Vorschriften nicht beachtet, ist leicht manchen Krankheiten ausgesetzt, wie Schlagfluß, Tobsuchtsanfällen, Alpdrücken usw., da "die unnötigen Gehirndämpfe keinen Auslaß haben". Der Mund soll beim Atmen offenstehen, damit die entstehenden "Feuchtigkeiten" entweichen können. Auch über das Bett und seine Ausstattung sind wir durch die häufigen und genauen Beschreibungen der Schlafgemächer gut unterrichtet. Das Bett war zwar groß und weich, mit Federn gefüllt, aber als Unterlage des Federbettes diente meist nur Stroh, auch schlief man unbekleidet und nur mit Tüchern oder Fellen zugedeckt.

Daß man, um Krankheiten zu vermeiden, den Körper von schlechten Säften reinigen soll, war eine Auffassung, die im Mittelalter im Volke allgemein verbreitet war und mit den Anschauungen der Medizin übereinstimmte. Um sich seine Gesundheit zu erhalten, sollte sich jeder den drei wichtigsten Behandlungsmethoden unterziehen: dem Purgieren, Schröpfen und Aderlassen. Volksbücher und Kalender, Miniaturen und Holzschnitte geben uns ein lebendiges Bild von diesen dem Mittelalter prophylaktisch und therapeutisch so wichtigen Maßnahmen, die meist in Rasierstuben und Badehäusern vom Bader und Barbier vorgenommen wurden. Wann der Aderlaß wirksam ist, darüber belehrten Kalender, Laßzettel und Laßbriefe. In besonderen Jahreszeiten und bei besonderen astrologischen Konstellationen sollte er erfolgen, aber auch an besonders warmen und feuchten Tagen, "weil auch das Blut des Menschen warm und feucht ist".

Der Einfluß, den die literarische Nachfolge des wahrscheinlich im 12. Jahrhundert entstandenen medizinischen Lehrgedichtes "Regimen sanitatis Salernitanum", die Volksschriften und Kalender, die zu Beginn der Buchdruckerkunst die Länder überschwemmten, auf die Entwicklung der Gesundheitspflege hatte, wäre eines besonderen Studiums wert. Mit größter Genauigkeit wird in ihnen jede Einzelheit des täglichen Lebens behandelt, die Pflege eines jeden Körperteils angegeben.

Auf die Pflege der Zähne legte man offensichtlich besonderen Wert. Um Mund und Zähne gesund zu halten und den Atem wohlriechend zu machen, kaute man wohlriechende Blätter, machte Spülungen mit Wein, in dem Wurzeln aufgekocht wurden und behandelte die Zähne mit verschiedenen Pulvern, deren Hauptbestandteile gebranntes Hirschhorn, gestoßener Marmor und verschiedene Wurzeln waren. Diese Pulver wurden in kleine Säckchen aus porösem Leinen getan und mit ihnen die Zähne abgerieben.

Daß Kosmetik und Haarpflege in einer Zeit, die eine so verfeinerte Liebeslyrik hervorbrachte wie das Mittelalter, besonders hervortraten, nimmt nicht wunder. Mit vielerlei wohlriechenden Salben und Essenzen wurde das Haar gepflegt, und über das immer mehr überhand nehmende, der Haut wenig zuträgliche Schminken wurde schon im 17. Jahrhundert geklagt.

Der Mönch

Wie sich die Geschehnisse des vielgestaltigen Mittelalters überhaupt nicht auf eine gültige Formel bringen lassen, so auch nicht die vielerlei hygienischen Einrichtungen der mittelalterlichen Klöster. In den großen Klöstern der Kluniazenser dürfte sich schon im 12. Jahrhundert die Lebensführung nicht wesentlich von der der wohlhabenden Laien unterschieden haben. Doch traten gegen die "verweltlichten" Orden immer wieder andere Orden strenger Observanz auf, die eine grundsätzlich andere Einstellung ihrer Glieder verlangten. Der Eintritt in das Kloster sollte eine vollständige Umstellung der Lebenshaltung bedeuten, und die Gründer dieser neuen Orden wollten durchsetzen, daß mit dem "Abschied von dieser Welt" auch wirklich ernst gemacht würde. Für Bernhard von Clairvaux (12. Jh.) und seine Brüder ist die Welt nicht nur ein Jammertal, sie ist vor allem ein sinnloser Tanz um Güter ohne Wert. Der Mensch liebt sich und seinen Körper: Was ist dies anderes als Götzenanbetung ? Nur Askese und Ausschaltung aller sinnlichen Freuden können der Seele ihre ursprüngliche Rechtschaffenheit wiederbringen. Und die zur Durchführung dieses strengen Lebens auserwählten Orte sind die Klöster. Vorbildlich wurde in mancher Hinsicht der zu Ende des 11. Jahrhunderts gegründete Orden der Zisterzienser. Alles im Leben dieser Mönche ist den Grundsätzen der Frömmigkeit unterworfen, die Lebensweise einschließlich der sie berührenden hygienischen Vorschriften. Die Lebensregeln, die in diesen Klöstern galten, wirkten bis weit hinein in die Kreise der Laien. Schon der Bau der Zisterzienserklöster zeigte durch die besondere Einfachheit den bewußten Gegensatz zu den Kluniazensern, deren Abteien häufig luxuriöse Einrichtungen aufwiesen. Einfach war die Wohnung des Zisterzienserabtes, einfach das Refektorium und von höchster Einfachheit die Zellen der Brüder. Die Tageseinteilung war bis ins kleinste geregelt. Ein jeder muß in einem eigenen Bett schlafen, aber angekleidet oder mindestens in Unterkleidern. Sieben Stunden Schlaf genügen. In einem gemeinsamen Waschraum werden Hände und Gesicht gewaschen, um den Waschbrunnen sind vier Handtücher aufgehängt: eines für die Priester, eines für die Diakone, eines für die Subdiakone und das vierte für jene, die keine gesunden Hände haben. Den ganzen Körper wäscht man nur am Samstagabend, um sich würdig für den Sonntag vorzubereiten; dann werden auch die Kleider gewechselt. Das Bad wird nach Möglichkeit vermieden. In einer Klosterordnung der Zisterzienser heißt es: "Sonst pflegen sich die Menschen, wenn sie rasiert sind, zu baden. Die Mönche aber sollen es nur zweimal jährlich tun, zu Weihnachten und zu Ostern. Da kann jeder baden, der will. Sonst darf es nur mit Erlaubnis des Abtes geschehen, wenn es die Gesundheit erfordert." Die Fußwaschung war eine religiöse Übung der Demut und kann nicht zu den hygienischen Maßnahmen gezählt werden.

Die Mahlzeiten der Zisterzienser waren kärglich. Von Ostern bis Pfingsten, in der Freudenzeit der österlichen Auferstehung, gab es täglich zwei Mahlzeiten, mittags und abends. Von Pfingsten bis September eine, außer Sonntags, wo gewöhnlich zwei verabreicht wurden. In der darauffolgenden strengen Fastenzeit aber war auch Sonntags nur ein Mahl vorgesehen. Zu Tische wurden außer Obst oder rohem Gemüse zwei gekochte Speisen aufgetragen. Geflügel war streng, verpönt, "nicht einmal der Bischof darf einem Mönche befehlen, außer im Krankheitsfalle, solches zu sich zu nehmen". Die Speisen wurden nicht mit Fett zubereitet, nur zwanzig Tage vor Weihnachten, vor dem vierzehntägigen Fasten, wurde, um die Mönche für die bevorstehende harte Zeit zu stärken, den Gerichten Butter oder Fett beigefügt. jeder Mönch durfte täglich ein Pfund Brot verzehren.

Es war erlaubt, zu den Mahlzeiten ungefähr ein Drittel Liter Wein zu trinken, doch wurde völlige Abstinenz als Gott wohlgefälliger angesehen. Auch in einer Benediktinersatzung heißt es: "Wem aber Gott die Kraft verleiht, sich des Weines ganz zu enthalten, der wisse, daß er besonderen Lohn empfangen wird."

Die strengen Ernährungsvorschriften wurden bisweilen dadurch gemildert, daß fromme Bürger Schenkungen für den Tisch der Mönche machten. Auch die zunehmende Verweltlichung und der anwachsende Reichtum mancher Klöster wandelten die ursprünglich so karge Kost allmählich in üppige Mahlzeiten um, bei denen es an Fleisch, feinsten Zuckerbackwerken und starken Weinen keineswegs fehlte.

Einfach, wie ursprünglich die Ernährung, war auch die Kleidung. Die Zisterzienser, die "grauen Mönche", trugen eine Art Tunika aus Leinen oder Wolle, darüber einen Schulterumhang. Der lange Mantel aus haarigem Stoff mit Kapuze schützte gleichmäßig gegen Kälte und gegen Sonne. In den meisten Satzungen, die sich mit der Bekleidung der Mönche beschäftigen, wird gesagt, daß sie sich nach der jeweiligen Lage des Klosters und nach dem Klima richten soll. Zur Ausstattung der Mönche gehörten aber auch, wie aus manchen Inventaren folgt, Hemden, Strümpfe, Gamaschen, Strumpfbänder und Pantoffeln, in besonders kalten Gegenden ein Muff und ein Schaffell.

Die Art und Weise, wie die Mönche für ihre eigenen Kranken sorgten, wurde vorbildlich für die Laienwelt. Die Klöster hatten ein "infirmitorium", wo die Kranken abgesondert behandelt wurden, eine reichlich ausgestattete Apotheke, oft auch einen Garten mit Heilpflanzen. Es gibt kaum Satzungen irgendeines Ordens, die nicht genaue Vorschriften über die Pflege von Kranken enthalten, ebenso auch hygienische Ratschläge für die Genesenen, die baden und ihr Geschirr reinigen sollen. In der Art, wie es den Mönchen vorgeschrieben wurde, gleichmäßig für Arme und Reiche zu sorgen, was in den Franziskaner- wie in den Augustinerregeln besonders hervorgehoben wird, sind die schon ausgebildeten Anfänge einer sozialen Hygiene zu sehen, wie sie erst in viel späteren Zeiten von den Städten übernommen und ausgebildet wurde.

Die hygienischen Hauptmaßnahmen, um die Mönche bei guter Gesundheit zu erhalten, waren, in Fortführung der antiken Überlieferung, der Aderlaß und das Purgieren. Der Blutverlust, den ein wiederholter Aderlaß bedeutet, mag ihnen wohl als ein Mittel erschienen sein, die Askese zu erleichtern. Die Feierlichkeiten, die mit den ziemlich häufig erfolgenden Aderlässen verbunden waren, und die sogenannten Aderlaßhäuser, wie im Kloster von St. Gallen, zeugen für die Wichtigkeit Jener Maßnahme im Leben der Mönche.

Von der Lebensweise in den großen Orden des Mittelalters unterschied sich erheblich jene in den Orden der Bettelmönche, die als Folge der asketisch-reformatorischen Bewegung innerhalb von Klerus und Kirche gegründet worden waren. Ihre Heimat war nicht das Kloster, denn sie befanden sich stets auf der Wanderung von Stadt zu Stadt, wodurch sie mit dem Volke weit mehr in Berührung kamen als die Mönche der Klöster; sittliche und auch hygienische Anschauungen konnten durch sie leicht verbreitet werden. Doch hatten sie sich grundsätzlich jede Lebenserleichterung untersagt, trugen weder Hemd noch Schuhe, erbettelten sich die Nahrung, so daß ihr Einfluß weit mehr auf religiösem Gebiet lag als auf sozialhygienischem. Hier wurde bestimmend der Einfluß der bürgerlichen Hospitalsorden, deren aufopfernde Pflegetätigkeit besonders der mittelalterlichen Schweiz und den süddeutschen Städten zugute kam.

Die Angst vor Krankheiten im Mittelalter

Die Angst ist aus dem seelischen Leben des Mittelalters nicht wegzudenken. Man fühlt ihren beklemmenden Druck in den Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer und in den Bildern vom Teufel und den Dämonen. Das Sündenbewußtsein des mittelalterlichen Menschen läßt ihn die Schrecken des Krieges und der Epidemien als unabwendbare Heimsuchungen vorausahnen. Von unheilbarer Krankheit befallen zu werden, war eine der quälendsten Angstvorstellungen der Zeit, um so mehr als man sich der Gefahr gegenüber fast machtlos fühlte. Und doch - der Mensch des Mittelalters war ihr gegenüber nur seelisch passiv eingestellt; praktisch tat er alles, was er konnte, um sich zu schützen, tat es, wie es der Zeit entsprach, indem er medizinisch begründete Abwehrmaßnahmen mit religiös-magischen zu vereinen trachtete.

Die große, sich täglich erneuernde Furcht galt dem Aussatz. Ein Aussätziger bedeutete eine öffentliche Gefahr, die Gesunden hatten ein Recht sich zu schützen, und der Aussätzige wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Diese Ausschließung ging ursprünglich mit großer Feierlichkeit vor sich und war bis ins 11. Jahrhundert von einem schaurigen Ritual begleitet. Im Beisein des als aussätzig Erklärten wurde ein De profundis, eine Totenmesse, gelesen. Dann hüllte man ihn in ein Leichentuch, legte ihn in einen Sarg und warf drei Schaufeln Erde auf ihn. Später wurde die Zeremonie' gemildert, es wurde nur eine feierliche Messe gelesen, Priester, Verwandte, Freunde und Nachbarn geleiteten den Kranken zu seinem neuen Heim vor die Stadt, das entweder ein Leprosorium oder ein eigenes kleines Häuschen vor den Toren der Gemeinde war, häufig durch ein weißes Kreuz als Wohnstätte eines Aussätzigen kenntlich. Auf Stadtkosten war das Haus mit Tisch und Stuhl, einem Lager, ein wenig Wäsche und Geschirr versehen. Alles das mußte so einfach als möglich sein, denn nach dem Tode des Kranken wurde die ganze Einrichtung verbrannt. Der Lepröse mußte eine besondere Kleidung tragen, die ihn seinen Mitmenschen als solchen kenntlich machte; meist war es ein grauer Anzug, ein langer Mantel mit Kapuze, in dem sich der Wind verfangen sollte, damit man schon aus der Ferne den Aussätzigen erkennen könne. Beim Herankommen von Menschen mußte er durch eine Klapper oder ein Hornsignal warnen, so daß alle noch rechtzeitig vor ihm fliehen konnten. Einen Stock mußte er tragen, denn es war ihm streng verboten, irgendwelche Eßwaren, die er kaufen wollte, zu berühren, mit dem Stock konnte er auf sie hinweisen. Wollte er an einem öffentlichen Brunnen trinken, so mußte er das Wasser mit seinem eigenen Becher schöpfen, seine Kleider und Wäsche durfte er nicht im Fluß waschen, kein Barbier durfte ihn rasieren oder ihm das Haar schneiden. Auf dem Markte durfte er sich nicht sehen lassen, der Eintritt in Gasthöfe war ihm untersagt. Der Kirche durfte er sich nur bis zur Türe nähern, doch hatten die meisten Leprosorien ihre eigene Kapelle.

Gewöhnlich wurde die Tatsache, daß ein Mensch von Lepra befallen war, erst durch Gerüchte, die in der Stadt umliefen, oder durch eine Anzeige der Nachbarn bekannt. Der Beschuldigte mußte sich einer Untersuchungskommission stellen, die im frühen Mittelalter aus dem Bischof, einigen Geistlichen und einem Kranken bestand, der als "Spezialist" angesehen wurde, später aus einigen angesehenen Ärzten und Barbieren der Stadt. Wurde der Angezeigte von der Krankheit frei erkannt, so hatte er das Recht, gegen die Beschuldiger Klage zu erheben. Sein Gesundheitsattest wurde an den öffentlichen Plätzen der Stadt durch den Ausrufer bekannt gemacht.

Die Angst vor den Aussätzigen ging weit über das sachlich Gerechtfertigte hinaus. Man traute ihnen zu, daß sie mit Absicht andere Menschen anstecken wollten, vermutete gar, daß sie eine Weltverschwörung anzuzetteln gedachten, durch die sie, die Aussätzigen, sich zu den Herren der Welt machen wollten. Auch beschuldigte man sie, Brunnen zu vergiften und geheime Künste auszuüben.

Um so eigenartiger wirken die Unterbrechungen aller Vorsichtsmaßregeln bei besonderen Anlässen: Verbote, die Stadt zu betreten, wurden häufig für Weihnachten und Pfingsten aufgehoben, damit die Kranken von der öffentlichen Mildtätigkeit Almosen erbitten konnten, in Paris durften sie sogar jeden Montag an der Großen Brücke auf milde Gaben warten. Wie so oft im Mittelalter, so führte auch hier die Angst vor Ansteckung einen Kampf mit der Angst, im jenseits für die Hartherzigkeit gegen Kranke bestraft zu werden. Es darf angenommen werden, daß der Aussatz schon im 11. Jahrhundert verbreitet war (Kreuzzüge!), um die Mitte des 12. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht hatte und um die Mitte des 14. Jahrhunderts allmählich abflaute. Erst im 16. Jahrhundert, in dem die strengen Schutzmaßnahmen fortgesetzt wurden, verlor der Aussatz an praktischer Bedeutung.

Gegenüber der Angst vor dem Aussatz trat die vor allen anderen Krankheiten zurück. Nicht einmal die gegen Ende des 15. Jahrhunderts auftretende Syphilis konnte eine ähnliche Furcht erregen. Um die Syphiliskranken abzusondern, schuf man sogenannte Blatternhäuser. jenes von Straßburg wies schon 1496 zweihundert Insassen auf. Die Behandlung erfolgte auf Kosten der Stadt und bestand vor allem in Quecksilbereinreibungen. Besondere Blatternärzte wurden angestellt. Eine andere, jedoch umstrittenere Behandlungsmethode war die mit Guajakholz. Die reichen Fugger hatten durch den Handel mit ihm ihren Reichtum noch wesentlich vermehrt; aus dem Gewinn ließen sie 1525 in Augsburg zwei große "Franzosenspitäler" errichten. Im übrigen machte die Syphilis, wohl wegen ihrer weniger dramatischen Symptome, dem Spätmittelalter weniger Sorgen, als es zu einer energischen Bekämpfung notwendig gewesen wäre.

Gesteigert wurde die allgemeine Furcht vor Krankheiten durch die großen Pestepidemien, die vom 12. Jahrhundert an in schreckenerregendem Ausmaß über die Länder hereinbrachen und ganze Gegenden buchstäblich entvölkerten. Die stärkste Pestepidemie war die des Jahres 1348. Durch sie soll Europa ein Viertel seiner Bevölkerung verloren haben.

Der erste Gedanke beim Auftreten des "schwarzen Todes" war Flucht. "Verstecken nützt nicht", sagt 1394 Simon von Couven in Montpellier, "die einzige Rettung ist die Flucht." Aber alles konnte nicht fliehen. Und die noch Gesunden versuchten, die Pestkranken wie die Aussätzigen möglichst zu isolieren und dadurch die Gefahr der Ansteckung zu verringern. Trotz der fast grausamen Konsequenz, mit der diese Maßnahmen angewendet wurden, bei der Pest erwiesen sie sich als unwirksam. Das ganze Haus des Kranken war gebannt. Seine Angehörigen und alle, die mit ihm in Berührung kamen, mußten mit ihm abgeschlossen bleiben. Man mauerte die Eingangstüre zu, um sicher zu sein, daß das Gebot auch befolgt wurde. Durch Boten lieferte die Stadt den Abgeschlossenen Nahrung. Die Toten wurden durchs Fenster hinuntergelassen und in Karren, den sogenannten "Rabenkarren", vor die Stadt geführt. Die Bestattung außerhalb der Stadt war ebenfalls eine Maßnahme zur Eindämmung der Epidemie, denn zu gewöhnlichen Zeiten befand sich der Friedhof bei der Kirche im Innern der Stadt. Die Fenster und Türen des Hauses, in dem ein Pestkranker gestorben war, mußten acht bis zehn Tage offen stehen in allen Räumen Räucherungen durchgeführt werden, Kleider und Wäsche wurden verbrannt. Während der Epidemien waren Ansammlungen zu vermeiden, Feste und Predigten verboten; gestattet waren einzig und allein die Bittprozessionen, daß Gott die Geißel von der Stadt nehmen möchte. Reisenden, die aus Gegenden kamen, in denen die Pest herrschte, wurde der Eintritt in die Städte verwehrt. Bernabo, der Herzog von Mailand, war der erste, der durch die Maßnahmen, die er 1374 in seiner Stadt vornahm, die "Quarantäne" eingeführt hat. Doch auch damit konnte er Mailand in diesem Jahre nicht vor der Pest bewahren, aber die nächste Welle der Epidemie war in Mailand viel schwächer als in den anderen italienischen Städten.

Während der Seuche war es schwierig, den ärztlichen Dienst in der Stadt sicherzustellen. Die Ärzte selbst fühlten sich der Seuche gegenüber ohnmächtig. Jede Schutzmaßnahme schien ihnen angesichts der unausweichlichen Ansteckungsgefahr fast nutzlos. "So groß ist die Gefahr, daß einer vom anderen die Krankheit bekommt, ohne auch nur mit ihm zu tun zu haben, bloß wenn er ihn ansieht", heißt es in Montpellier. Die Ärzte waren selbstverständlich am meisten gefährdet und schützten sich, so gut sie konnten. Sie forderten, daß bei ihrem Besuch der Kranke die Augen schließe und sich mit dem Bettuch zudecke, so ging die Untersuchung vor sich. Fieberte er und war somit, nach den Anschauungen der Zeit, die Ansteckungsgefahr gesteigert, so mußte er sich einen Essigschwamm vor den Mund halten, war der Kranke "kalt", dann sollte er durch Kümmel die Übertragungsmöglichkeit abschwächen.

Wer nicht fliehen konnte, versuchte alles, um der entsetzlichen Seuche zu entgehen. Das größte Vertrauen brachte man Ausräucherungen entgegen; die Pestbücher raten immer wieder, besonders abends ein Feuer im Hause anzuzünden und Rosmarin, Ambra, Mastix und Schwefel zu verbrennen, damit der Rauch die Luft reinige. Während der Pestzeit sollte man nicht baden. Der Aderlaß wird, wie fast bei allen Krankheiten, auch hier empfohlen. Manche glaubten auch, daß Menschen, die in Spitälern und an "anderen übelriechenden Orten" arbeiteten, dadurch vor der Ansteckung gesichert seien. Man erklärte dies damit, "daß ein Gift das andere schwächt, besiegt und niederwirft". Und es gab Ängstliche, die täglich besonders übelriechende Orte aufsuchten, sich stundenlang dort aufhielten und die schlechten Düfte einatmeten, um sich auf diese Weise zu schützen. Man trachtete auch, der Epidemie mit geistigen Mitteln beizukommen. Das ganze Mittelalter hindurch wurde angenommen, daß besonders Trauer und Leid zur Krankheit führten. Die panikartige Verzweiflung, die während des großen Sterbens herrschte, mußte, so meinte man, der Krankheit besonders Vorschub leisten. So verboten die Stadtverwaltungen immer wieder, die Sterbeglocken zu läuten, die sonst den ganzen Tag geklungen hätten, auch sollte man keine Trauerkleider tragen und seine Trauer nicht laut kundtun. Um den fürchterlichen psychischen Druck, so gut es ging, abzuschwächen, hatte die Kirche große Beichterleichterungen eingeführt, Sterbende konnten im Notfalle sogar durch einen Laien Vergebung erlangen.

Schrecken und Angst vor dem unerklärbaren Übel, das die Menschen heimgesucht hatte, trieb sie, nach dem Schuldigen, der Gottes Zorn so herausgefordert hatte, zu suchen. In vielen deutschen Städten wurden die Juden verfolgt, man beschuldigte sie, die Brunnen vergiftet zu haben. Viele auch klagten sich der eigenen Sünden an und taten sich zu Geißlergruppen zusammen, die wehklagend, zur Buße auffordernd und sich mit Ruten schlagend durch das Land zogen und zu dem ohnehin furchtbaren Bild noch eine schaurige Einzelheit mehr hinzufügten.

Medizin- und Kulturgeschichtliches

Der Lepra verdächtigt - aus Geschäftsneid

Anzeigen wegen Lepra wurden im Mittelalter manchmal dazu benützt, um eine lästige Konkurrenz loszuwerden, wie folgendes Begebnis zeigt: Jean Bienfait, Gasthausbesitzer in Avignon, wurde 1494 von einem anderen Gastwirt, dessen Gasthaus aber weniger besucht war als das seine, wegen Aussatz angezeigt. Aussätzig zu sein hätte den Ruin von Bienfait bedeutet, denn die Gaststätte eines Leprakranken wäre sofort von allen gemieden worden. Bienfait stellte sich einer Kommission der angesehensten Ärzte von Avignon, die ihn für gesund erklärten. Er wandte sich dann an einen Untersuchungsausschuß der medizinischen Fakultät von Montpellier, und auch hier wurde das Urteil von Avignon bestätigt. Der Gesundheitserklärung wurden die beiden Atteste beigefügt, überall angeschlagen und in der Stadt ausgerufen. Bald war das Unternehmen Bienfaits wieder so blühend wie zuvor.

 

 

 
 

update 04.01.03 K. Paulus